Interview mit Seniorprofessor Joachim Knape zum Abschluss seiner Dienstzeit
Die Interviewfragen stellte Rebecca Kiderlen.
Wie hat sich das Seminar für Allgemeine Rhetorik seit 1991 entwickelt?
Die internationale Sichtbarkeit des Rhetorikstandorts Tübingen, seine Forschungsvitalität, die Lehrnachfrage und der Lehrerfolg nach Abschlüssen haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr gut entwickelt. Als ich 1991 nach Tübingen kam, bestand das Seminar noch keine 25 Jahre und noch immer war vieles im Fluss. Das gilt eigentlich bis heute. Zwei wesentliche Punkte bestimmen Auftrag und Existenz der institutionelle Verankerung des Faches Rhetorik in Tübingen und Deutschland: Das Fach ist ganz jung und es hat eine gewisse epistemische Alleinstellung. Das hat viele Konsequenzen. 1967 fing alles mit Walter Jens als Gründung eines bundesweit renommierten Intellektuellen und Schriftstellers an. In den 1980er Jahren entwickelte vor allem Gert Ueding ein modernes Curriculum, das sich im Lauf der Zeit unserer heutigen Medienvielfalt zugewandt hat, um nur ein Stichwort zu nennen. Seitdem verhalten sich die Studierendenzahlen recht konstant. Mit Walter Jens zusammen begründete er zudem das Historische Wörterbuch. Das war mehr als ein Lexikon. Es war der Kern eines großen internationalen Forschungsprojekts, das die Geschichte der fachlichen Inhalte zu erfassen suchte. Und vor allem: Es hat die ‚Tübinger Rhetorik‘ weltweit bekannt gemacht. Das Wort „historisch“ im Titel des Wörterbuchs ist kein Zufall, sondern macht deutlich, dass sich die Arbeit der ersten Jahrzehnte unseres Instituts vor allem am diachronen Ansatz orientierten. Antike und moderne Kommunikation haben viele Schnittmengen.
Was meine eigene Arbeit betrifft – und danach ist hier ja sicherlich auch gefragt –, so bilden die drei Bände des Rhetorik-Repertoriums (GRATIA 59-61) eine Art Schlussstein meiner rhetorikhistorischen Forschungen. Sie fassen unser Quellenwissen über die ersten drei Jahrhunderte gedruckter deutscher Rhetorikgeschichte auf expositorischem Feld zusammen. Und dann sind da auch noch meine Beiträge zur Rhetoriktheorie. Im Unterschied zu anderen Fächern der philosophischen Fakultät hat die Rhetorik seit der Antike auch eine eigene Theorietradition, an die man problemlos anschließen kann, weil ihre Grundlagen auf Erfahrungswissen basieren. Das macht unser Fach gegenüber anderen in der Fakultät tendenziell so modern, nähert uns dem disziplinären Modell von Sozial- und Naturwissenschaften an, die auch eigene Theorien haben. Andere Fächer im Hause sind längst nicht so weit oder meinen das nicht nötig zu haben, lehnen eigene explizite Theoriebildung gar wegen ‚Dogmatismus‘-Verdacht ab, erörtern mit Leidenschaft nur die Theorien anderer Fächer. Da hat Aristoteles uns zum Glück ein anderes Programm anempfohlen.
Wenn ich auf die mehr als 25 Jahre zurückblicke, in denen ich hier gearbeitet habe, so war von Anfang an mein Anliegen, nicht nur die gerade erwähnte Diachronieweiter zu pflegen (was ich als wesentlichen Auftrag aufgrund der Einzigartigkeit unseres Instituts sehe), sondern als Ergänzung zu den historischenebenfalls systematischePerspektiven zu entwickeln und dabei die antiken, vor allem aristotelischen Ansätze modern weiter zu denken. In der Konsequenz heißt das, nun auch konsequent auf die Synchronieund das Systematische mit allen forschungsmethodischen Konsequenzen im Sinne Ferdinand de Saussures zu setzen. Vor diesem Hintergrund habe ich im Lauf der Zeit ebenfalls mehrere Dutzend Doktorarbeiten betreut, die oft in diese Richtung gingen, wesentliche Beiträge zum modernen Verständnis von Rhetorik geliefert haben und in den letzten Jahren den Kern der Buchreihe neue rhetorikbilden (deren Titel auch nicht zufällig ist) und die heute von den Professoren des Instituts gemeinsam herausgegeben wird.
Wie sehen Sie die Zukunft des Seminars?
Bei uns hat sich ja in den letzten Jahren ein Generationenwechsel auf allen Ebenen vollzogen und ich bin angesichts der neuen Fachvertreter sehr optimistisch hinsichtlich der Zukunft des Instituts. Insofern muss ich hier kein Ratgeber oder Visionär sein. In meinem Alter steht mir eher der Blick zurück zu, der, wie man sieht, ebenfalls zu positiven Sichtweisen führt.
Tübingen wurde im Rahmen der Exzellenzinitiative der letzten Jahre bisweilen als ‚Oxford‘ Deutschlands apostrophiert. Wenn damit nicht nur die Besonderheit des Ortes, sondern auch ein gewisses Herausragen in der Wissenschaftslandschaft gemeint ist, dann kann man das auch auf unser Fach übertragen. Da wir sowieso die – wie man sagt – fachlich-institutionelle Alleinstellung in Deutschland haben, wäre das vielleicht kein Thema. Trotzdem muss solch eine gegebene Position immer wieder mit Leben gefüllt werden. Das muss man unseren Professoren am Institut natürlich nicht sagen, aber da ich nun einmal gefragt bin, möchte ich ein paar Gedanken anbringen: Wenn man genau hinschaut, dann sind wir, was die Visibilität durch Konferenzen angeht, recht gut aufgestellt. Das gilt auch für große internationale Konferenzen. Dem kleinen Tübingen (ob man es nun wie ein ‚Oxford‘ oder ein ‚Mekka‘ des Faches auffasst), tut es dabei gut, immer mal wieder selbst als Austragungsort großer Fachkonferenzen profiliert zu werden. Nach Tübingen zu kommen, hat seinen Charme. Und auch die laufenden großartigen Forschungsvorhaben der Rhetorikprofessoren am Institut laden zum Besuch ein.
Das eigene Profil ist eine Überlebensgarantie für die Institution. Altersbedingt bin ich insofern eine Art ‚institutionelles Gedächtnis‘, als ich schon viele traurige Einsparrunden erlebt habe. Die wirtschaftlichen Konjunkturzyklen haben sich in den letzten Jahrzehnten bisweilen dramatisch auf die Finanzlagen der Universitäten ausgewirkt. Orchideenfächer sind da automatisch gefährdet. Das beste Argument ist in solchen Lagen immer noch die – wie man vielleicht sagen könnte – unique selling proposition, also Unverwechselbarkeit und Erkennbarkeit des Faches mit spezifischen Angeboten. Wir haben gerade mit unseren Praxisseminaren ein Feld, auf dem wir immer wieder das Studium mit den neuesten Entwicklungen verbinden können. Wenn ich hier ein Gebiet nennen soll, dann wäre das der breite Bereich des Designs mit all seinen (teils überraschend rhetoriknahen oder -relevanten) Inhalten, das für unsere Studierenden sehr anregend sein kann und neue Praxisbereiche erschließt. Lehraufträge bereiten da allerdings auch Kosten.
Ich schaue nicht zuletzt auch deswegen sehr optimistisch in die Zukunft, weil ab dem nächsten Jahr ein ganz neues Design für die Studienorganisation umgesetzt wird. Es betrifft die Lehre in ihren didaktischen Anforderungen und das Profil der beiden Studiengänge (BA und MA). Diese Studienreform ist zukunfts- und bedarfsorientiert und legt Zeugnis von der Vitalität des Faches ab.
Werden Sie weiterhin am Seminar unterrichten?
Da mich der Rektor am 23. Juli zum Seniorprofessor ernannte hat, unterrichte und prüfe ich sehr gern noch etwas weiter. Ich habe vor, weiterhin ein Haupt-/Oberseminar anzubieten, und natürlich betreue ich auch meine Examens- und Doktorkandidaten weiter. Dieses Wintersemester biete ich zum Beispiel ein Seminar zum Thema „Rhetorik vor Gericht“ an.
Welche weiteren Projekte haben Sie für die nächste Zeit geplant?
Die lange von mir verantworteten aufwändigen Forschungsprojekte treten nun zurück (Zusammenarbeit mit der Lufthansa oder der Stiftung Warentest, Entwicklung der Virtuellen Rhetorik, Courtship- und Fernsehforschungsprojekte, um nur einige synchrone Projekte zu nennen). Ich möchte mich jetzt ganz auf meine Buchpläne konzentrieren. Neben weit fortgeschrittenen Arbeiten zur literarischen Rhetorik und zur Redekultur geht es da – ich möchte fast sagen ‚altersbedingt‘ – um Grenzbereiche wie Rhetorik der Dinge und der Bilder, mit der sich die klassische, redebezogene Theorie nicht befasst hat und die als neue Felder auch eine theoretische Herausforderung darstellen. Das soll meine Arbeit in den nächsten Jahren bestimmen, worauf ich mich freue. Und ich freue mich auch auf die weitere Mitwirkung im laufenden Graduiertenkolleg zum Thema ‚Ambiguität‘, das so etwas wie eine interdisziplinäre Doktorandenschmiede darstellt.