Prantl 2004

Heribert Prantl – Zivilgesellschaft ist vitaler Verfassungsschutz

Wieviele Nazis gibt es hier?

Sie halten das für eine unpassende Frage? Es gibt Örtlichkeiten in Deutschland, wo diese Frage sehr gut passt, Örtlichkeiten, an denen diese Frage betreten-verlegene Heiterkeit auslöst. Wie viele Nazis gibt es hier? Das war die Frage, die der Hip-Hop-Musiker Xavier Naidoo vor ein paar Wochen in Anklam gestellt hat. Xavier Naidoo war, zusammen mit anderen Musikern von Brothers Keepers, zu Besuch in einer Plattenbauschule in einer Plattenbausiedlung in Anklam. Wie viele Nazis gibt es hier? Die Klasse lacht auf, ein Junge sagt leicht spöttisch: Die kann man hier gar nicht zählen, die stehen doch hier überall herum!

Und deshalb geht man in Anklam, geht man in Ducherow, geht man in der Gegend, in der Günther Hoffmann mit seinem Projekt Bunt statt Braun arbeitet, als Nicht-Rechter eben nicht auf Stadtfeste und nicht in bestimmte Stadtteile, die den Nazis gehören. So hat es Xavier Naidoo von den Schülerinnen und Schülern erfahren. Und wie ist es im Jugendclub, hat er sie weiter gefragt. Da sind überwiegend Nazis, erklärt ihm eines der Mädchen, aber wir gehen trotzdem da hin. Wenn man die nicht blöd anmacht, sind die doch ganz normal. Und wenn ich da hinkommen würde?, hakt der Soulsänger nach. Ungläubiges Hüsteln in der Klasse: Na, dann gäbe es sicher Stress! Der Sänger bohrt weiter: Und wenn Ihr Zeugen eines Überfalls werdet, holt Ihr da wenigstens die Polizei? Die Polizei?, fragt eine Dunkelhaarige zurück, die haben doch selbst Angst vor denen und machen nichts.

Das ist die Welt, in der Bunt statt Braun, in der also die Bürgerinitiative arbeitet, die wir heute ehren. Und die Tour der Musiker durch Schulen in Vorpommern gehört zu den Projekten, die Bunt statt Braun auf die Beine gestellt hat, in Zusammenarbeit mit der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin. Xavier Naidoo hat an die Schülerinnen und Schüler in Anklam und Ducherow appelliert: Mensch, die einzigen, die sich hier dagegen stellen können, seid Ihr. Es ist Eure Zukunft, die Ihr Euch nehmen lasst von diesen Typen. Gute Leute müssen sich zu Wort melden!

Günther Hoffmann und seine Leute vom Projekt Bunt statt Braun versuchen zu zeigen, wie das geht. Es geht um Demokratie-Coaching, es geht darum, Demokratie zu lernen, es geht darum, den Behörden und der Öffentlichkeit die Augen zu öffnen, ihnen zu zeigen, wer sich hinter einer Bürgerinitiative schöner und sicherer Wohnen in Ueckermünde oder der der Bürgerinitiative schöner Wohnen Wolgast verbirgt: rechtsradikale Kameradschaften. Es geht darum, dem Amt Ueckermünde-Land klar zu machen, dass es nicht gut ist, wenn man dem Nationalen und Sozialen Aktionsbündnis Mitteldeutschland (NSAM) erlaubt, in den Schaukästen der Gemeinden seine Plakate anzubringen. Es geht darum, den Leuten zu erklären, dass es vielleicht mehr ist als ein närrischer Germanen-Spleen, wenn sich der örtliche Handwerker sein Hausdach mit Runen verziert, oder wenn dem Verkehrsopfer am Straßenrand nicht ein Kreuz, sondern eine Wotan-Rune zum Andenken gesetzt wird.

Bunt statt Braun betreibt demokratische Grundausbildung in einem Landstrich mit höchster Arbeitslosigkeit, in dem das Netzwerk der Rechtsextremen über gute ökonomische Strukturen verfügt: Es gibt Dachdecker-, Tiefbau- und Taxibetriebe, die Rechtsextremen gehören und die bevorzugt Gesinnungs­genossen einstellen . In einer der wirtschaftlich schwächsten Regionen Deutschlands, tragen diese Betriebe viel zur gesellschaftlichen Verankerung der rechten Szene bei. Es hat sich dort ein Alltag mit Nazismus als immer währender Hintergrundmusik etabliert. Sogar Gewalt gehört zu diesem Alltag: Gewalt gegen Feindgruppen: Linke, Ausländer, Obdachlose, Schwule, Juden.

Es gibt einen merkwürdigen Glauben auch bei aufrechten Demokraten den Glauben, dass es, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus geht, ausreicht, die richtige Gesinnung zu haben. Aber: Moral allein genügt noch nicht. Man braucht Leute, die sich trauen, und die in mühseliger Alltagsarbeit in die Schulen gehen, in die Jugendzentren, in die Behörden und zur Polizei. Die Zusammenarbeit zwischen Bunt statt Braun, der örtlichen Polizei und der Sonderkommission MAEX (Mobile Aufklärung Extremismus) funktioniert, so habe ich mir sagen lassen, sehr gut. Es braucht sehr viel mobile Aufklärung in einem Landstrich, in dem man beobachten kann, wie ein dreijähriger Pimpf, mit Bomberjacke ausstaffiert, mit einem Miniatur-Baseball-Schläger, den ihm der Papa geschnitzt hat, auf eine Negerpuppe einschlägt.

Günther Hoffmann und seinen Leuten von Bunt statt Braun ergeht es wohl manchmal, beinah im Wortsinn so, wie es ein Film- und Buchtitel sagt: Allein gegen die Mafia. In dieser Situation zu bestehen ist ein Akt hoher Zivilcourage, für Personen, für ihre Projekte und Initiativen. Wo die Mitte der Gesellschaft braun schillert, gilt als linksradikal, wer das Grundgesetz verteidigt – und als Nestbeschmutzer nicht der, der das Nest beschmutzt, sondern der, der es säubert.

„Man darf nicht zeigen, dass man Angst hat“, hat mir Leoluca Orlando gesagt, der damalige Bürgermeister von Palermo und Gründer der Anti-Mafia-Partei La Rete, als ich 1996 mit ihm durch Sizilien gefahren bin. „Man darf den öffentlichen Raum nicht ‚denen‘ überlassen“. Nicht denen das waren damals in Sizilien die, die ein par Jahre vorher Orlandos Freunde, den Staatsanwalt Falcone und den Richter Borsellino ermordet hatten. Den öffentlichen Raum nicht denen überlassen in Ostdeutschland sind es rechte Kameradschaften, die den öffentlichen Raum besetzen. In ganzen Kleinstädten ist der Rechtsextremismus zur dominanten Jugendkultur geworden. Auf den Schulhöfen, zumal der Berufsschulen, dominieren kahlgeschorene Jungmänner das Bild. Die NPD und die DVU sitzt in den Stadträten und die rechten Cliquen sitzen in den Kneipen und an den Tankstellen, bei Sportveranstaltungen und Stadtfesten. Als links gilt in weiten Landstrichen der ostdeutschen Provinz jeder, der nicht rechts ist oder nicht die Schnauze halten will.

In Wurzen/Sachsen, einer rechtsradikalen Hochburg, ist vor ein paar Tagen ein Sprengstoffanschlag auf das Büro des Netzwerks Demokratische Kultur verübt worden ist. Nicht immer ist es freilich eine gefährliche Mafia, mit der Demokraten zu kämpfen haben bisweilen ist es auch nur eine unbewegliche Bürokratie, sind es Leute, die hinter dem Schreibtisch hocken und bürgerschaftliches Engagement mit dem Satz abblocken: „Wir sind nicht zuständig“. Dieser Satz wir sind nicht zuständig ist ein Alarmsatz für die Zivilgesellschaft. Er muss Alarm auslösen.

Unzuständigkeiten: Wieder Wurzen, Sachsen. Die Lehrerin kommt in die Klasse, auf der Tafel steht, groß und provozierend: Juden vergasen! Der Schulleiter, bei dem die Lehrerin Rat sucht, wimmelt sie ab: Warum kommen Sie zu mir? Für Tafelabwisch ist der Hausmeister zuständig! Wenn es so ist wenn für den Tafelabwisch der Hausmeister zuständig ist, für die Rechtsextremisten der Verfassungsschutz, für ihre Opfer das Krankenhaus und für die kahlgeschorenen Kameraden die ABM-Mutti, die ihnen den Schlüssel für das Jugendzentrum überreicht zwecks Glatzenpflege auf Staatskosten, wenn die Schüler ihre Lehrer mit Heil Hitler grüßen und dafür gar niemand zuständig ist, weil, so die Lehrer, wir gar nicht mehr zum Unterrichten kämen, wenn wir uns auch noch damit auseinandersetzen müssten wenn dann der Staat und seine Politiker noch immer nicht sehen wollen, dass Feuer am Dach ist: Dann muss man dem Himmel danken, wenn Projekte wie Bunt statt Braun als Feuerwehr und Technisches Hilfswerk auftritt.

Das ist das Milieu, in dem die Netzwerke für Demokratische Kultur, zu denen Bunt statt Braun gehört, arbeiten – und das Netz dieser Netzwerke wird nicht halten, wenn es nicht weiter Stiftungen und öffentliche Gelder gibt, die es erhalten. Es ist bekanntlich unendlich viel staatliches Geld in den Osten geflossen. Der Staat hat unendlich viel Geld in die Wirtschaft und Infrastruktur investiert, aber fast nichts in die Demokratie. Die Politik hat geglaubt, wenn man den Boden mit freiem Wettbewerb düngt, wächst darauf demokratisches Leben. Man hat sich getäuscht. Die Landtage im Osten sind noch immer nicht Teil vitaler demokratischer Grundstrukturen, die Kommunalparlamente nicht Ausdruck lebendiger Demokratie sie schwimmen wie Schnittlauch auf einer andere Suppe. Und das beginnt sich erst langsam zu ändern.

Die Menschen im Osten waren für den Kapitalismus nicht Subjekte, sondern Objekte. Die Menschen im Osten waren nicht Anpacker, sie wurden angepackt. Sie riefen die Mark, und dann rollte die Marktwirtschaft über sie hinweg. Und viele ließen das ergeben geschehen sie jammerten, soffen, schimpften auf den Staat und ließen sich von ihm aushalten. Vor ein paar Jahren begann die Larmoyanz zu weichen und an ihre Stelle tritt selbstbewusste Demokratieverleugnung. Nicht wenige Ostdeutsche glauben gelernt zu haben, dass ihnen einst die DDR-Machthaber über das Wesen des Kapitalismus so viel Falsches gar nicht erzählt haben. Sie fliegen nach Mallorca, schwärmen von der Gemütlichkeit der alten DDR und werden ziemlich ungemütlich, wenn es um Ausländer geht.

Wenn in Ostdeutschland Neonazis „ausländerfreie“ oder „national befreite“ Zonen proklamieren, dann sagt das sehr genau, worum es gehen muss: Um die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz. Das gilt nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Die besonderen Probleme in Ostdeutschland verleiten im Westen bisweilen dazu, sich sehr pharisäerhaft zu gerieren als ob Zivilcourage und Verantwortungsgefühl nicht auch hier Mangelware wären. Der Westen unseres Landes braucht den Sauerteig Zivilcourage so sehr wie der Osten: Viele sahen zu. Niemand half. Es gibt viele solcher Situationen. Man sitzt dann nicht mit Bier und Erdnüssen vor dem Fernsehen, wo Gewalt und Gemeinheit anmoderiert und von Werbeblöcken unterbrochen werden. Live ist es anders: Man müßte oft schreien, einschreiten, oder wenigstens die Notbremse ziehen, sich mit anderen, die auch herumstehen, verständigen.

Verwahrlosung des öffentlichen Raumes kann so viele Ursachen haben. In Sizilien heißt das, was das Gemeinwesen zerstört, Mafia. In Deutschland heißt es Neonazismus. Es heißt Antisemitismus. Es heißt Ausländerfeindlichkeit. Es heißt Ausgrenzung. Es heißt Desintegration. Es heißt Jugendarbeitslosigkeit. Es heißt Zerfall des sozialen Zusammenhalts. Es heißt Sprachlosigkeit zwischen Deutschen und Ausländern, zwischen Altbürgern und Neubürgern in diesem Land. Es heißt Rückzug der Ausländer in die eigene Ethnie. Es heißt Verantwortungsdiffusion. Es heißt Egoismus.

Mafia in Deutschland hat also andere Namen, eine andere Geschichte, sie funktioniert anders aber sie richtet vergleichbares Unheil an: Hier wie dort macht sie Gesellschaft und Kultur kaputt. Und hier wie dort wird oder wurde geleugnet, dass es sie gibt: „Mir ist nicht bekannt, dass es bei uns Rechtsradikale gibt“, so sagte ein Oberbürgermeister immer und immer wieder. Es war, wie die Juristen sagen, eine protestatio facto contraria. Dagegen helfen die klassischen Methoden der Mafia-Bekämpfung und die klassischen Methoden der Bekämpfung von organisierter Kriminalität nicht sehr viel weiter. Mit Kronzeugenregelungen, mit Opferhilfsprogrammen, mit den Mitteln und Methoden des starken Staats ist es da nicht getan. Da braucht man die starke Zivilgesellschaft.

Es ist, wenn es etwa gegen den Antisemitismus geht, nicht damit getan, Auschwitzlüge und Volksverhetzung unter Strafe zu stellen, die Synagogen zu bewachen, ein paar als verrückt apostrophierte Neonazis aus dem Verkehr zu ziehen und den Zentralrat der Juden zu beruhigen. Der Antisemitismus ist nämlich nicht nur eine Angriff auf eine Minderheit in Deutschland, auf eine, der man aus historischen Gründen besonders verpflichtet ist. Er ist ein Angriff, der die Gesellschaft insgesamt bedroht. Der Antisemitismus ist kein Minderheitenthema, kein Thema, bei dem es nur um das Verhältnis zu den mittlerweile wieder hunderttausend Juden in Deutschland geht; er ist ein zentrales Thema der deutschen Gesellschaft.

Es ist sicher so, dass sich das offizielle Deutschland bemüht. Es gab Wiedergutmachung, schon unter Adenauer. Es gibt die Woche der Brüderlichkeit, Jahr für Jahr ist der Bundespräsident ihr Schirmherr. Christlich-jüdische Gesellschaften sind entstanden, Synagogen restauriert, jüdische Gemeinden neu- und wiedergegründet worden. Gedenkstätten werden gepflegt, Denkmäler errichtet. Spitzenpolitiker schreiben Grußworte zu den jüdischen Feiertagen, und bei den Gedenkfeiern der Republik sitzen die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in der ersten Reihe. Das offizielle Deutschland fühlt sich in der Rolle des ehemaligen Alkoholikers, der weiß, was passiert, wenn er wieder zur Flasche greift.

Abseits der offiziösen Anlässe dagegen, und zwar nicht nur an den Stammtischen, greift man immer wieder zum alten Fusel. Man hat sich hierzulande daran gewöhnt, dass jüdische Einrichtungen ausschauen müssen wie Festungen und dass fast tagtäglich jüdische Gräber geschändet werden. Soll man sich jetzt auch noch daran gewöhnen müssen, das Kindern in der S-Bahn der Davidstern vom Halskettchen gerissen wird und die Politik Scharons als Entschuldigungsgrund herhalten muss?

Ich habe vom ehemaligen Alkoholiker Deutschland gesprochen: Der unselige Scharon wird wie ein Korkenzieher benutzt, um die Flasche mit den alten Vorurteilen zu entkorken.

Was ist der Unterschied zwischen einem Rad und dem Antisemitismus? so fragt das Heft des Berliner „Zentrums für demokratische Kultur“, das vor einiger Zeit zur OSZE-Konferenz erschienen ist. Die Antwort: Beides sind Erfindungen, beide als solche genial und sehr nützlich; der Unterschied liegt allein im zivilisatorischen Wert. Das ist zynisch, aber richtig. Der Antisemitismus ist eine uralte Erfindung, auf der alles Böse, Unsittliche und Diabolische abgeladen wird, seit Urzeiten und schier unausrottbar. „Vor dem Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher“, hat Hannah Arendt voller ironischem Pessimismus gesagt. Umso wichtiger sind die Versuche, den Mond auf die Erde zu holen. Damit sind wir wieder bei der Arbeit von Initiativen wie Bunt statt Braun. Verfassungsschutz ist nämlich nicht (oder jedenfalls nicht nur) das, was sich in einer Bundesbehörde dieses Namens etabliert hat. Das ist der amtliche Verfassungsschutz. Der vitale Verfassungsschutz lebt in Initiativen wie Bunt statt Braun.

Den Mond auf die Erde holen: Das klingt unmöglich, und trotzdem geschieht es. Als im Jahr 1997 das ´Europäische Jahr gegen Rassismus` eröffnet wurde und, nach dem Willen der EU, auch in Deutschland begangen werden sollte, genierten sich die deutschen Regierungspolitiker für dieses Wort „Rassismus“ beinah mehr als für die Vorfälle, die es bezeichnete. Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) war deshalb herzlich froh, als diese Jahr wieder vorbei war und er selbst es fertig gebracht hatte, das Wort Rassismus so gut wie gar nicht in den Mund zu nehmen. Folklore, Gyros, Tralala das alles wollte er gerne fördern, mehr aber nicht; vor allem wollte er nicht vom alltäglichen Rassismus in Deutschland reden, von dessen Ursachen und von dessen Bekämpfung.

Die politische Phobie gegen das Wort Rassismus ist verschwunden. Kanthers Nachfolger Otto Schily (SPD) hat sich immerhin getraut, ein „Bündnis gegen Rassismus“ zu gründen. Die Erkenntnis, dass es nicht reicht, damit alljährlich so eine Art Muttertag für Ausländer zu protegieren, ist aber erst nach den ausländerfeindlichen Anschlägen im Sommer 2000 gereift aber schon wenig später wieder aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden, vielleicht deshalb, weil der Aufstand der Anständigen, den der Kanzler damals propagierte, ohne den Anstand der Zuständigen nicht funktionieren kann.

Antisemitismus, Neonazismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit. Zur Bewältigung des vermeintlich unerklärlich Bösen gab oder gibt es in fast allen Religionen den Exorzismus: Zauberer, Medizinmänner oder Priester versuchen mit magischen Handlungen, böse Mächte zu vertreiben. Da wird gebetet, getanzt, gesalbt, gewaschen, die Hand aufgelegt oder einfach laut gelärmt, um so den Dämon zu bannen. Um den Neonazismus aus Deutschland auszutreiben, findet hierzulande alle paar Jahre, nach besonders Aufsehen erregenden Anschlägen oder nach besonderen Wahlerfolgen der Rechtsextremisten, eine Art politischer Exorzismus statt. Die Handlungen, die zu diesem Zweck vollzogen werden, reichen vom lauten politischen Lärmen bis hin zum Verbotsantrag: Der Antrag an das Bundesverfassungsgericht, die rechtsextreme NPD zu verbieten, wurde seinerzeit betrieben und verkündet, als handle es sich beim Verbot um den großen Exorzismus solemnis, der von der Besessenheit befreit. Und als der Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte, aus Gründen, welche die Verfassungsschützer selbst zu vertreten hatten, brach auch der Aufstand der Anständigen bald wieder zusammen.

Im Gefolge des gescheiterten Verbotsantrags bröckeln die Programme zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit: ´Civitas`, ´Xenos` und ´Entimon` unterstützen lokale Initiativen, helfen Opfern und finanzieren Jugendsozialarbeit. Wahlerfolge von DVU und NPD wie jüngst in Brandenburg und Sachsen-Anhalt haben ein einziges Gutes: Ansonsten würde von der Politik schon wieder so getan, als sei der Rechtsextremismus gar nicht mehr so gefährlich; das Problembewusstsein verschwindet sehr schnell, wenn die Rechtsextremen nicht in den Parlamenten stören. Schon hat die CDU/CSU im Bundestag beantragt, das Geld für Programme wie ´Jugend für Toleranz und Demokratie` zu streichen, weil die Erfolge nicht messbar seien. Wenn die Zahl der Anschläge nicht sinkt, heißt es in Teilen der Politik: Die Programme sind eh nicht erfolgreich! Wenn die Zahl der Anschläge aber sinkt, heißt es: Die Programme brauchen wir nicht mehr. Die Folge solcher Ignoranz würde sein, dass der exorzistische Klamauk in ein paar Jahren wieder beginnt.

Die Arbeit gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Neonazismus und Fremdenfeindlichkeit zeigt exemplarisch, wo die Mittel und Möglichkeiten des Staats liegen sie zeigt aber auch, dass es ohne die Zivilgesellschaft nicht geht. Sie entsteht, wenn die Zivilcourage vieler sich addiert, wenn sie sich zusammenfügt wie in einem gigantischen Puzzle. Zivilgesellschaft ist gebündelte Zivilcourage. Zivilcourage ist es, den Opfern rechter Gewalt zu helfen, sie zur Polizei zu begleiten. Zivilcourage ist es, das Feld nicht denen zu überlassen, die sich ´Sturmfront` oder ´White Power` ans Autofenster kleben. Zivilcourage ist es, den Versuch zu wagen, den Mond auf die Erde zu holen immer und immer wieder.

In Kürze wird ein Zuwanderungskompromiss Gesetz werden, über den man nicht so recht jubeln kann. Dieses Gesetz, so war es vor Jahren angekündigt, sollte einen großen Teppich weben, auf dem künftig Integration stattfinden kann. Nun ist ein Topflappen daraus geworden. Aber was hülfe uns das schönste Gesetz, was hülfe uns der schönste und größte Teppich, wenn diese Gesellschaft nicht bereit ist, ihn auszurollen? Diese Bereitschaft kann man nicht legislativ verordnen. Sie muss auf andere Weise hergestellt werden die Bürgerinitiative die wir heute ehren, zeigt, wie das gehen kann.

Der Schriftsteller Joseph Roth, der auf der Flucht vor Hitler im Wahnsinn endete, hat über die untergegangene Donau-Monarchie gesagt: Ich habe es geliebt, dieses Land, das mir gleichzeitig erlaubte, Patriot und Weltbürger zu sein. Diese Idee von einem Land, in dem man Patriot und Weltbürger zugleich sein kann, ist in der Europäischen Union wieder auferstanden. Nach Wahlkämpfen, wie sie in den vergangenen Jahren in Europa geführt worden sind, ist es freilich nötig daran zu erinnern, dass in der EU Gefahren nicht nur von Schweinen, Schafen und Rindern drohen. Es gibt nicht nur Tierseuchen, es gibt auch politische Seuchen. Es gibt die Neonationalismen, die eine Zukunft in Vielfalt gefährden.

Der eben zitierte Joseph Roth hat vor siebzig Jahren geklagt und gewarnt: Die Völker suchen vergeblich nach den sogenannten Nationaltugenden. Meine alte Heimat war ein großes Haus mit vielen Türen. Mit vielen Türen und Zimmern, für viele Arten von Menschen, und dieses mein Haus ist zerteilt, gespalten und zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, und nicht in Kabinen.

Und es ist schon merkwürdig: In einer Zeit, in der das Haus Europa gebaut wird und die Regierungschefs der EU über die Innenarchitektur dieses Hauses verhandeln, wird der Stolz auf die alten Kabinen hochgehalten und der Dünkel, ein Kabinenbewohner zu sein, wird wieder gepflegt.

Deutschland wird eine Werkstätte der Kulturen sein müssen. Da muss zusammengebaut, geleimt, gehämmert, gelötet werden, da sprühen Funken, wenn geschweißt wird. Da müssen verschiedene Materialien kombiniert, da muss viel ausprobiert werden, da geht, weil viel probiert wird, auch etwas kaputt, aber es kommt immer wieder etwas Ansehnliches heraus. Das Produkt dieser Werkstätten heißt Integration. Integration ist ein forderndes Wort: Es fordert die alteingesessenen deutschen Bürger und es fordert die Ausländer in Deutschland, die hier Bürger werden wollen. Und welche Regeln gelten für die Integration? Das Grundgesetz der Integration ist das Grundgesetz!

Auch die Schulen werden Werkstätten werden müssen. Die Lehrerinnen und Lehrer werden schon in ihrer Ausbildung auf den multikulturellen Arbeitsalltag vorbereitet werden müssen. Es werden mehr und mehr Lehrer aus eingewanderten Familien ausgebildet und eingestellt werden müssen. Und wenn einmal der Name Ügüzlük für einen Lehrer, einen Polizisten, einen Richter, Manager oder einen Journalisten so selbstverständlich sein wird wie Maier, Huber, Prantl, Konietzky oder Hoffmann, dann ist diese Gesellschaft da, wo sie hin muss und wo auch eine kleine regionale Initiative wie Bunt statt Braun sie hinführen will.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sie kennen Hemingways Geschichte des alten kubanischen Fischer Santiago, der – nach 84 Tagen erfolgloser Ausfahrt in den Golf von Mexiko – es trotzdem wieder versucht. In vielfacher Weise hat dieses Tun Parallelen mit der Arbeit von Bunt statt Braun, die wir heute ehren.

Der alte Mann und das Meer: Hemingways Geschichte ist das Gleichnis für ein von Mühsal und Tapferkeit gezeichnetes Dasein, dessen Sinnhaftigkeit nicht immer durch äußere Siege bestätigt werden muss. Günther Hoffmann ist noch kein alter Mann, seine Initiative ist es auch nicht. Seine Geschichte müsste vielleicht eher der junge Mann und das Meer heißen. Aber auch die Geschichte von Bunt statt Braun ist die Geschichte eines von Mühsal und Tapferkeit gezeichneten Daseins, dessen Sinnhaftigkeit nicht immer, aber hoffentlich immer öfter, durch äußere Siege bestätigt werden wird.

Liebe Leute von Bunt statt Braun: Die heutige Preisverleihung soll Ihnen ein wenig dabei helfen.