Rede des Jahres

Seit 1998 vergibt das Seminar für Allgemeine Rhetorik die Auszeichnung „Rede des Jahres“. Mit diesem Preis würdigt das Seminar für Allgemeine Rhetorik jährlich eine Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend beeinflußt hat.

Der kairos der Rede spielt für die Auszeichnung eine besondere Rolle. Gesucht sind Reden, die ein breites Echo gefunden haben, sei es zustimmend oder ablehnend.

Neben das Kriterium der Wirkungsmächtigkeit treten bei der Wahl der Rede des Jahres weitere Bewertungsmaßstäbe, so analysieren wir die argumentative Leistung und die stilistische Qualität der Rede. Ziel ist es somit das gesamte rhetorische Kalkül des Redners, Maßstab der antiken Rhetorik, zu betrachten und zu bewerten.

Gerne nehmen wir auch Vorschläge und Selbstbewerbungen für die Rede des Jahres entgegen. Bei der Einreichung der Vorschläge bitten wir um eine Begründung gemäß Kriterienkatalog der Jury.

Kriterienkatalog für die Juryarbeit

(ausgezeichnet werden im Normfall Reden, die in Deutschland in deutscher Sprache gehalten wurden)

  1. bemerkenswerter Anlass oder besondere situative Herausforderung?
  2. publizistische Wirkung?
  3. Elaboriertheit der Rede (mit Blick auf die gewählte Redegattung)?
  4. inhaltliche Relevanz und thematische Akzentuierung der Rede?
  5. Vortragsstil (mit Blick auf die jeweilige Persönlichkeit)?

 


„Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung. Deutschland weiß das.”

Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet Robert Habeck für die ‚Rede des Jahres‘ 2023 aus

Die Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen verleiht Dr. Robert Habeck die Auszeichnung ‚Rede des Jahres 2023‘ für seine Video-Ansprache zu Israel und Antisemitismus am 1. November 2023. Sie ist ein Musterbeispiel für eine engagierte und bedeutsame politische Rede. Mit Verve und hoher Emotionalität verteidigt Habeck das Existenzrecht Israels und legt damit ein eindringliches Votum für die besondere Verantwortung Deutschlands ab.

Der 7. Oktober stellte nicht nur für Israel, sondern auch für Deutschland eine gravierende Zäsur dar. An diesem Tag griff die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel an. In Deutschland gab es zuletzt Anschläge auf Synagogen und jüdische Mitmenschen, israelische Flaggen wurden verbrannt, immer verworrenere Narrative wurden gestreut und trugen zu einer aufgeheizten Stimmung in Politik und Gesellschaft bei.

Nach gut drei Wochen ergriff Vizekanzler Robert Habeck das Wort. Er wolle einen Beitrag dazu leisten, die Debatte zu entwirren – „Zu viel scheint mir zu schnell vermischt zu werden.” Diese Rede drängte sich aufgrund der gesellschaftlichen Notlage auf und wurde geradezu herbeigesehnt. In diesem Spannungsfeld tritt Habeck als rhetorischer Akteur mit einem selbstbewussten und klaren Statement auf und macht sich zum Sprachrohr gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.

In seiner Video-Ansprache äußert sich Habeck zu Israel und dem Antisemitismus. In einem zweifachen Plädoyer bekräftigt er einerseits das Existenzrecht Israels und dessen Recht auf Verteidigung und erteilt anderseits dem Antisemitismus innerhalb Deutschlands eine klare Absage: „Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner.” 

Habeck greift in seiner Argumentation grundlegende Werte wie die historische Verantwortung Deutschlands oder auch den Toleranz-Gedanken auf, den er jedoch von einem falschverstandenen, beliebigen abgrenzt. Er ordnet mit seinen knappen Sätzen analytisch die Lage und erzeugt Anschaulichkeit durch tagesaktuelle und persönliche Beispiele. „Ein jüdischer Freund berichtete mir von seiner Angst, seiner schieren Verzweiflung, seinem Gefühl von Einsamkeit. […] Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.” Eindringlich wirken diese Passagen, weil sie durch den Einsatz rhetorischer Stilmittel, Parallelismen, Wiederholungen und Antithesen den Inhalt hervorheben. Habecks Text ist bewusst komponiert und wirkt doch natürlich. Mit Kürze und Klarheit in Wortwahl und Satzbau präsentiert Habeck ein unmissverständliches Statement in einer schwierigen Problemlage – und bietet damit politische Führung. Kritik, auch ins eigene politische Milieu, wird dabei nicht ausgespart: „Es braucht jetzt Klarheit, kein Verwischen.” Dabei betont er auch das Leid der Menschen in Gaza und fordert den Schutz der Zivilbevölkerung. Gleichzeitig rechtfertige dies jedoch keinen Antisemitismus.

Mit seiner Ansprache tritt Robert Habeck als mitfühlender Denker auf, als Politiker und Mitbürger, der seinem persönlichen Anliegen Ausdruck verleihen will. Er artikuliert Gefühle wie Angst, Schmerz und Verzweiflung überzeugend und authentisch. Er kombiniert Emotionen und Argumente zu einer überaus wirkungsvollen Rede, die in eindrückliche Appelle mündet. Differenzierung und Rationalität für die Debatte seien das Gebot der Stunde. Am verfassungsrechtlichen Grundkonsens dürfe man nicht rütteln: „Das Existenzrecht Israels darf nicht relativiert werden. Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung. Deutschland weiß das.”

Hohe publizistische Wirkung und einhelliges Lob in allen politischen Lagern entfaltete das zehnminütige Statement auch aufgrund seiner zeitgemäßen Inszenierung für Social Media: Mit seiner Nahaufnahme im Hochformat und mehrsprachigen Untertiteln verbindet es klassische und moderne Elemente der überzeugenden Rede und weist auf eine Veränderung der Rede- und Debattenkultur hin. Beispielhaft verkörpert Robert Habeck diese Entwicklung und verdient sich mit seiner Video-Ansprache den Preis ‚Rede des Jahres 2023’. 

Seit 1998 vergibt das Seminar für Allgemeine Rhetorik die Auszeichnung Rede des Jahres’. Mit diesem Preis würdigt das Seminar jährlich eine Rede, die die politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend beeinflusst hat. Kriterien für die Jury sind u.a. inhaltliche Relevanz, Vortragsstil, Elaboriertheit sowie publizistische Wirkung.

Jury: Jutta Beck M.A., Lukas Beck M.A., Selina Bernarding M.A., Dr. Fabian Erhardt, Dr. Markus Gottschling, Rebecca Kiderlen M.A., Prof. Dr. Joachim Knape, Prof. Dr. Olaf Kramer, Evelyn Krutsch, Dr. Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier

Text der Rede: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/M-O/manuskripte-habeck-ueber-israel-und-antisemitismus-de.pdf?__blob=publicationFile&v=4 
Video der Rede: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Videos/2023-some/231101-israel-und-antisemitismus/video.html 
Mehr Informationen zur Rede des Jahres: http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/portfolio/rede-des-jahres/

Kontakt 

Prof. Dr. Dietmar Till
Universität Tübingen
Seminar für Allgemeine Rhetorik
Telefon 0 70 71/ 29 – 7 42 58
E-Mail: dietmar.till@uni-tuebingen.de
http://www.rhetorik.uni-tuebingen.de/

 

 

  • Text der Rede

    Vizekanzler und Bundesminister Robert Habeck
    Rede zu Israel und Antisemitismus
    01.11.2023

    Der Terrorangriff der Hamas auf Israel ist jetzt bald vier Wochen her. Viel ist seitdem passiert. Politisch, aber vor allem für die Menschen. So viele Menschen, deren Leben von Angst und Leid zerfressen wird.

    Die öffentliche Debatte ist seit dem Angriff aufgeheizt, mitunter verworren.

    Ich möchte hier mit diesem Video einen Beitrag dazu leisten, sie zu entwirren. Zu viel scheint mir zu schnell vermischt zu werden.

    Der Satz, „Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson“ war nie eine Leerformel und er darf auch keine werden. Er sagt, dass die Sicherheit Israels für uns als Staat notwendig ist.

    Dieses besondere Verhältnis zu Israel rührt aus unserer historischen Verantwortung: Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.

    Die Gründung Israels war danach, nach dem Holocaust das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden – und Deutschland ist verpflichtet, zu helfen, dass dieses Versprechen erfüllt werden kann. Das ist ein historisches Fundament dieser Republik.

    Die Verantwortung unserer Geschichte bedeutet genauso, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Dass sie nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion und ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst aber ist zurück.

    Ich habe kürzlich Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt getroffen. In einem intensiven, einem schmerzhaften Gespräch erzählten mir die Gemeindevertreter, dass ihre Kinder Angst haben, zur Schule zu gehen, dass sie nicht mehr in Sportvereine gehen, dass sie auf Anraten ihrer Eltern die Kette mit dem Davidstern zuhause lassen.

    Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

    Sie erzählten, dass sie sich selbst nicht mehr trauen, in ein Taxi zu steigen, dass sie Briefe nicht mehr mit Absendern versehen, um ihre Empfänger zu schützen.

    Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

    Ein jüdischer Freund berichtete mir von seiner Angst, seiner schieren Verzweiflung, seinem Gefühl von Einsamkeit. Die jüdischen Gemeinden warnen ihre Mitglieder, bestimmte Plätze zu meiden – zu ihrer eigenen Sicherheit.

    Heute hier, in Deutschland. Fast 80 Jahre nach dem Holocaust.

     

    Der Antisemitismus zeigt sich auf Demonstrationen, er zeigt sich in Äußerungen, er zeigt sich in Angriffen auf jüdische Läden, in Drohungen.

    Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig. Dann heißt es, der Kontext sei schwierig. Kontextualisierung aber darf nicht zu Rechtfertigung führen.

    Wir haben sicherlich oft zu viel Empörung in unserer Debattenkultur. Hier aber können wir gar nicht empört genug sein. Es braucht jetzt Klarheit, kein Verwischen.

    Zur Klarheit gehört: Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren – in keiner.

    Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort. Es braucht diese auch von den muslimischen Verbänden. Einige haben sich klar von den Taten der Hamas und vom Antisemitismus distanziert, haben das Gespräch gesucht. Aber nicht alle, manche zu zögerlich und ich finde, insgesamt zu wenige.

    Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden und das gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Und sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen. Für religiöse Intoleranz ist in Deutschland kein Platz.

    Wer hier lebt, lebt hier nach den Regeln dieses Landes. Und wer hierherkommt, muss wissen, dass das so ist und auch so durchgesetzt werden wird.

    Unsere Verfassung schützt und gibt Rechte, sie legt Pflichten auf, die von jedem und jeder erfüllt werden müssen. Beides kann man nicht voneinander trennen. Toleranz kann an dieser Stelle keine Intoleranz vertragen. Das ist der Kern unseres Zusammenlebens in der Republik.

    Das heißt: Das Verbrennen von israelischen Fahnen ist eine Straftat, das Preisen des Terrors der Hamas auch. Wer Deutscher ist, wird sich dafür vor Gericht verantworten müssen, wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert damit einen Grund, abgeschoben zu werden.

    Der islamistische Antisemitismus darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch in Deutschland einen verfestigten Antisemitismus haben: Nur, dass die Rechtsextremen sich zum Teil gerade aus rein taktischen Gründen zurückhalten, um gegen Muslime hetzen zu können. Die Relativierung des Zweiten Weltkriegs, des Nazi-Regimes als „Fliegenschiss“ ist nicht nur eine Relativierung des Holocausts, sie ist ein Schlag ins Gesicht gegenüber den Opfern und Überlebenden. Alle, die hinhören, können und müssen das wissen. Der zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden, für das Nazi-Regime war die Vernichtung des europäischen Judentums immer Hauptziel.

     

    Und weil unter den Rechtsextremen so manche Putin-Freunde sind: Putin lässt sich mit Vertretern der Hamas und der iranischen Regierung fotografieren und bedauert die zivilen Opfer im Gaza-Streifen, während er zivile Opfer in der Ukraine schafft. Und seine Freunde in Deutschland sind gewiss keine Freunde der Jüdinnen und Juden.

    Sorge macht mir aber auch der Antisemitismus in Teilen der politischen Linken und zwar leider auch bei jungen Aktivistinnen und Aktivisten. Anti-Kolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen. Insofern sollte dieser Teil der politischen Linken seine Argumente überprüfen und der großen Widerstandserzählung misstrauen. Das „beide Seiten“-Argument führt in die Irre. Die Hamas ist eine mordende Terrorgruppe, die für die Auslöschung des Staates Israels und den Tod aller Juden kämpft.

    Die Klarheit, mit der das wiederum zum Beispiel die deutsche Sektion von Fridays For Future auch in Abgrenzung zu ihren internationalen Freunden konstatiert hat, ist mehr als respektabel.

    Als ich in der Türkei war, wurde mir vorgehalten, dass in Deutschland pro-palästinensische Demonstrationen verboten seien. Und dass Deutschland seine humanitären Ansprüche auch auf die Menschen in Gaza übertragen müsse. Ich machte klar, dass bei uns Kritik an Israel natürlich erlaubt ist. Dass es eben nicht verboten ist, für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser und auch ihr Recht auf einen eigenen Staat einzutreten. Aber der Aufruf zur Gewalt gegen Juden oder das Feiern der Gewalt gegen Juden sind verboten – zurecht!

    Ja, das Leben in Gaza ist ein Leben in Perspektivlosigkeit und Armut. Die Siedlerbewegung in der Westbank schürt Unfrieden und nimmt den Palästinensern Hoffnung und Rechte und auch Leben. Und das Leid der Zivilbevölkerung jetzt im Krieg ist eine Tatsache. Eine furchtbare. Jedes tote Kind ist eines zu viel.

    Auch ich fordere humanitäre Lieferungen, setze mich dafür ein, dass Wasser, Medikamente und Hilfsgüter nach Gaza kommen, dass Flüchtlinge geschützt werden. Zusammen mit unseren amerikanischen Freunden machen wir Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung zentral ist. Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gaza-Streifen kommt, sind schlimm.

    Das zu sagen ist so notwendig wie legitim. Systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden kann und darf damit dennoch nicht legitimiert werden. Antisemitismus kann damit nicht gerechtfertigt werden.

    Natürlich muss sich Israel an das Völkerrecht und internationale Standards halten. Aber der Unterschied ist: Wer würde solche Erwartungen an die Hamas formulieren?

    Und weil ich kürzlich im Ausland damit konfrontiert wurde, wie der Angriff auf Israel am 7. Oktober als „unglücklicher Vorfall“ verharmlost wurde, ja sogar die Fakten in Frage gestellt wurden, rufe ich hier noch mal in Erinnerung: Es war die Hamas, die Kinder, Eltern, Großeltern in ihren Häusern bestialisch ermordet hat. Deren Kämpfer Leichen verstümmelt haben, Menschen entführt und lachend der öffentlichen Demütigung ausgesetzt haben.

    Es sind Berichte des schieren Horrors – und dennoch wird die Hamas als Freiheitsbewegung gefeiert? Das ist eine Verkehrung der Tatsachen, die wir nicht stehen lassen können.

    Und das bringt mich zum letzten Punkt:

    Der Angriff erfolgte in einer Phase der Annäherung mehrerer muslimischer Staaten an Israel. Es gibt die Abraham-Abkommen zwischen Israel und muslimischen Staaten der Region. Jordanien und Israel arbeiten in einem großen Trinkwasserprojekt zusammen. Saudi-Arabien war auf dem Weg, seine Beziehungen zu Israel zu normalisieren.

    Aber ein friedliches Miteinander von Israel und seinen Nachbarn, von Juden und Muslimen, die Perspektive einer Zweistaatenlösung – all das wollen die Hamas und ihre Unterstützer, insbesondere die iranische Regierung nicht. Sie wollen es zerstören.

    Wer die Hoffnung auf Frieden in der Region nicht aufgegeben hat, wer am Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und eine wirkliche Perspektive festhält – und das tun wir –, der muss jetzt in diesen Wochen der Bewährung differenzieren.

    Zur Differenzierung gehört, dass die Mordtaten der Hamas Frieden verhindern wollen. Die Hamas will nicht die Aussöhnung mit Israel, sondern die Auslöschung von Israel.

    Und deshalb gilt, unverrückbar: Das Existenzrecht Israels darf nicht relativiert werden. Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung. Deutschland weiß das.

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    Archiv

    • 2022 – Luisa Neubauer: Ansprache auf dem Parteitag der Grünen am 16. Oktober 2022

      „Eine komplizierte Rede in komplizierten Zeiten“
      Seminar für Allgemeine Rhetorik zeichnet Luisa Neubauer für „Rede des Jahres 2022“ aus

      Die Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen verleiht Luisa Neubauer die Auszeichnung „Rede des Jahres 2022“ für ihre Ansprache auf dem Parteitag der Grünen am 16. Oktober 2022. Ihre Rede ist ein aufrüttelndes Plädoyer für eine wirkungsvolle Klimapolitik und ein eindringlicher Aufruf der jungen Generation für Gerechtigkeit und Solidarität in Anbetracht des Klimawandels.

      Auf dem Parteitag der Grünen stand Neubauer, selbst Grünen-Mitglied und Klimaaktivistin bei Fridays for Future, vor einer großen situativen und persönlichen Herausforderung. Während der politische Alltag von Ukrainekrieg, Corona-Folgen und wirtschaftlichen Problemen geprägt ist und die Grünen-Partei vor einer Zerreißprobe steht, will Neubauer energisch auf die Schattenseiten der realpolitischen Lösungsansätze hinweisen. Pointiert fasst sie die Ausgangslage zusammen: „Eine komplizierte Rede in komplizierten Zeiten.“

      Mit großem Engagement und kraftvoller Rhetorik tritt Neubauer für ihre Sache ein, ihre Betroffenheit und Sorge sind in jedem Satz der Rede zu spüren – und manches Mal auch in ihrer betroffenen, mitunter wütenden Stimme zu hören. Feinfühlig und dennoch bestimmt erinnert sie an die Werte und Ziele der Grünen und der Klimabewegung in Zeiten wachsenden Handlungsdrucks und einer von Kompromissen gezeichneten Realpolitik. Mit rhetorischen Fragen wendet sich Neubauer gegen eine aus ihrer Warte als Klimaaktivistin falsch verstandene Realpolitik: „Ich frage euch: Was ist denn Realpolitik in der Klimakatastrophe? Scholz und Lindner, sie sind nicht die Realität; Friedrich Merz und sein Klima-Populismus ist es auch nicht.“

      Wer Neubauers Auftritte von den Demonstrationen mit Fridays for Future kennt, erlebt hier eine ganz andere Rednerin. Dort wie hier passt sie sich gekonnt dem Publikum an. Die Jugendsprache weicht der beißenden Ironie, der melodische Vortrag – fast einem Rap vergleichbar – wird durch antithetische Perioden ersetzt. Ein genau kalkulierter und argumentativ starker Auftritt, bei dem die Rednerin sich heiklen Fragen und Problemen stellt, statt ihnen auszuweichen. Wiederholungen und Antithesen nutzt sie, um Verständnis und Unverständnis gleichermaßen auszudrücken und den Widerspruch zu einem Kernelement der Rede werden zu lassen: „Ich verstehe, dass ihr die Misere der anderen ausbadet, ich verstehe, dass der Weg aus den Fossilen nach dem 24. Februar diesen Jahres ein anderer sein muss als davor. Was ich aber nicht verstehe, ist, dass dieser provisorische Weg für Jahrzehnte zementiert wird, dass man neue fossile Infrastruktur schafft, die man absehbar nicht braucht.“ Das kleine Dorf Lützerath erklärt die Rednerin zum Symbol dieses Konfliktes, wo sich das große Ganze manifestiere. Genau hier legt Neubauer, die unermüdliche Klimaaktivistin, den Finger in die Wunde und fragt mit großer Verve: „Seit wann argumentieren die Grünen mit gefakten Zahlen von RWE? Seit wann?“

      Vom Raunen im Saal lässt sich die Rednerin, Stimme der jungen Generation, nicht beirren. Sie appelliert an die Vernunft, der Klimakatastrophe politisch zu begegnen, denn das sei echte Realpolitik.

      Zum Schluss ihrer aufrüttelnden Rede fährt Neubauer nochmals ein ganzes Arsenal an Appellen auf, die an Dringlichkeit kaum zu überbieten sind: „Es gibt keinen Tag zu verlieren und keine Legislaturperiode zu verschwenden“, und: „legt los!“. Das Publikum zeigt sich von der eindringlichen Mahnerin und ihren aufrüttelnden Appellen hörbar wie sichtbar beeindruckt – und würdigt sie mit stehendem Applaus. Damit liefert Neubauer nicht nur eine technisch wie performativ äußerst mitreißende Rede, sondern auch ein beeindruckendes Beispiel für die differenzierende Wirkmacht kritischer Rhetorik.

      Jury: Lukas Beck, Nico Bosler, Dr. Fabian Erhardt, Dr. Markus Gottschling, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Dr. Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Viktorija Völker, Dr. Thomas Zinsmaier

      Arbeitskreis Rede des Jahres: Lukas Beck, Dr. Fabian Erhardt, Dr. Frank Schuhmacher

      Video der Rede: https://www.youtube.com/watch?v=8onMba916cw

      Kontakt
      Prof. Dr. Olaf Kramer
      Universität Tübingen
      Seminar für Allgemeine Rhetorik
      Telefon +49 70 71 29-74256
      olaf.kramer@uni-tuebingen.de
      www.rhetorik.uni-tuebingen.de

       

      • 2021 – Maren Kroymann: Dankesrede beim Deutschen Comedypreis

        „Wenn man uns hört, dann muss man uns als ganze Menschen hören.“
        Seminar für Allgemeine Rhetorik zeichnet Maren Kroymann für „Rede des Jahres“ 2021 aus

        Tübingen, den 17.12.2021

        Die Jury des Seminars für Allgemeine Rhetorik verleiht Maren Kroymann die Auszeichnung Rede des Jahres 2021 für ihre Dankesrede beim Deutschen Comedypreis, in der sie eindringlich den alltäglichen Sexismus kritisiert und ein leidenschaftliches Plädoyer für Gleichberechtigung formuliert.

        Die Rede Kroymanns könne als eine kraftvolle Demonstration von Solidarität mit der deutschen #metoo-Bewegung und als herausragendes Beispiel für die Wirkungsmacht von Rhetorik gesehen werden, da sie dem Thema Sexismus große mediale Aufmerksamkeit verschafft habe, so die Jury in ihrer Begründung.

        Maren Kroymann erhält am Abend des 01.10.2021 den Ehrenpreis des Deutschen Comedypreises. Der Saal ist voll, das Publikum applaudiert der Ehrenpreisträgerin; Standing Ovations, während Maren Kroymann den Preis entgegennimmt. Es ist ihr Lebenswerk, das an diesem Abend ausgezeichnet wird. Der Anlass legt eine Dankesrede nahe. Doch Kroymann vollzieht einen mutigen Gattungswechsel, wandelt ihre Dankesrede in eine Anklagerede um, und begeht damit einen Bruch mit der Erwartungshaltung der Zuschauer:innen, der aufrüttelt: „Ich setze mich ja seit Beginn meiner Karriere dafür ein, dass die Geschichten von Frauen gehört werden. Ich werde jetzt dafür ausgezeichnet, dass ich lustige Geschichten erzähle. Und es gibt Frauen, die eben Geschichten erzählen, die ihre Geschichten sind, die nicht lustig sind und sie werden nicht so gerne gehört. Und ich möchte eigentlich nur sagen, dass ich das ein Missverhältnis finde. Wenn man uns hört, dann muss man uns als ganze Menschen hören.“

        Die Reaktion des Publikums im Saal ist unmittelbar spürbar, drückende Spannung liegt in der Luft – hier passiert etwas Unerwartetes und Mutiges. Besonders nach der Rede, als die Moderation wieder in den gewohnten glatten Kommunikationsmodus fällt und Konfetti von der Studiodecke regnet, wird ersichtlich, wie groß der tatsächliche Erwartungsbruch ist. Eben hierin liegt eine der großen Stärken der ausgezeichneten Rede.

        Kroymann überzeugt in ihrer Rede auch auf performativer Ebene. So setzt sie Sprechtempo und Pausentechnik gekonnt dazu ein, ihre sorgsam gewählten Worte zu betonen. Ihre Mimik und Gestik unterstützen jede Passage der Rede, sodass sie ihre volle Wirkkraft entfalten kann. Dabei wird in jeder Zeile spürbar, dass es der Rednerin mit ihrer Sache ernst ist. Kraftvoll und eindringlich adressiert Kroymann die Zuschauer:innen im Saal und vor den Fernsehgeräten.

        Kroymanns Rede besitzt eine humoristisch-selbstironische Note, die das Publikum für die Rednerin einnimmt, ihr Autorität und Glaubwürdigkeit verleiht. Der Text ist gespickt mit ironischen Bezügen, die sprachlich und performativ auf den Punkt genau gesetzt werden. So berichtet sie etwa über Begebenheiten zu Beginn ihrer Karriere mit einer großen Portion Selbstironie: „Ich erinnere mich noch sehr gut, es war 1985 – ja, da habe ich schon gelebt“.

        Die Argumentation der Rede ist durchzogen von kurzen, aber eindringlichen Narrativen. Kroymann verdichtet ihre persönlichen Erfahrungen zu eindrücklichen Skizzen und illustriert mit diesen Episoden sprachlich versiert die damalige und aktuelle Situation von Frauen in der Comedybranche. Beispielhafte Erzählungen von ihren ersten Engagements und Begegnungen mit Regisseuren, Autoren und anderen Personen der Unterhaltungsindustrie verleihen ihrer Rede Anschaulichkeit und machen sie für die Zuhörer:innen hoch wirksam und konkret erfahrbar.

        Maren Kroymann hat der #metoo-Bewegung in der Comedybranche mit ihrer abgewandelten Dankesrede zum Erhalt des Ehrenpreises eine kraftvolle Stimme verliehen und dem Thema starke Sichtbarkeit verschafft. Ihre Rede ist damit auch ein Zeichen für einen tiefergreifenden gesellschaftlichen Wandel, der sich vor allem durch das Überwinden der Sprachlosigkeit auszeichnet. Zurückblickend stellt sie fest: „Das waren […] Frauen, die nur in einem Universum von einem Mann vorkamen, der für sie schrieb. Und auf die Bühne zu gehen mit einem eigenen Thema, mit sich selbst als Thema, das gab es nicht.“ Ihr Mut, ihre eigene Geschichte zu erzählen, und ihr Appell, es ihr gleich zu tun, sind eine Bestärkung für alle Personen, die um Sichtbarkeit ringen – und ein beeindruckendes Beispiel für die Wirkungsmacht der Rede.

        Jury: Lukas Beck, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Prof. Dr. Olaf Kramer, Sarah Polzer, Clara Rohloff, Prof. Dr. Dietmar Till, Viktorija Völker, Dr. Thomas Zinsmaier

        Ansprechpersonen
        Clara Rohloff & Lukas Beck
        Universität Tübingen Seminar für Allgemeine Rhetorik
        Telefon +49 70 71/ 29 – 74257
        clara.rohloff@uni-tuebingen.de / lukas-nicolas.beck@uni-tuebingen.de
        www.rhetorik.uni-tuebingen.de 

        Text der Rede: Maren Kroymann_Rede Deutscher Comedypreis 2021
        Video der Rede: https://www.youtube.com/watch?v=SOiigtwfUsM

         

        • 2020 – Dr. Angela Merkel: Fernsehansprache zur Coronapandemie vom 18. März 2020

          „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst“ Bundeskanzlerin Merkel erhält die Auszeichnung „Rede des Jahres“ 2020

          Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen verleiht die Auszeichnung „Rede des Jahres“ 2020 an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. Sie erhält die Auszeichnung für ihre historische Fernsehansprache zur Coronapandemie vom 18. März 2020. Die Rede sei ein eindrucksvoller Appell an Verantwortung und Miteinander, verbinde die anschauliche Darstellung komplexer wissenschaftlicher Erkenntnisse mit Empathie und politischer Umsicht, sagte die Jury.

          Mit der im Ersten und Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlten Ansprache stellt sich die Bundeskanzlerin einer denkbar schweren Aufgabe, gilt es doch, komplexe epidemiologische Modelle zu erklären und die Bevölkerung zu radikalen Verhaltensänderungen zu bewegen. Rhetorisch nutzt Merkel dafür alle Register: Die Rede ist anschaulich geschrieben und gut strukturiert, engagiert vorgetragen und sorgt durch Wiederholungen und Variationen zentraler Gedanken für Eindringlichkeit. Durch bemerkenswertes Empathievermögen gelingt es Merkel, für Verständnis und Verantwortung zu werben. Sie formuliert einen großartigen und überzeugenden Appell an Vernunft und Einsicht, an Gemeinsinn und Solidarität: „Wir werden als Gemeinschaft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen.“

          Als Leitmotiv zieht sich die Forderung nach Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft durch die Rede. So macht die Kanzlerin immer wieder deutlich, dass Corona-Verordnungen alleine nicht ausreichten, um die Pandemie einzudämmen: „Alle staatlichen Maßnahmen gingen ins Leere, wenn wir nicht das wirksamste Mittel gegen die zu schnelle Ausbreitung des Virus einsetzen würden: Und das sind wir selbst.“ Immer wieder spricht Merkel einzelne Bevölkerungsgruppen direkt an und erzeugt so Nähe, nutzt ein breites Repertoire rhetorischer Stilmittel, um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen und deutlich zu machen, wie ernst die Lage ist. Überzeugend bringt sie eigene Erfahrungen ein, nutzt ihre eigene Biografie und Autorität, um als Rednerin für ihre Sache einzustehen. „Für jemandem wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen.“

          Auch im Kontext der Reden anderer europäischer Regierungschefs sticht Merkels Rede heraus: Während Emmanuel Macron in seiner ersten Fernsehansprache zu autoritären Ansagen und einer ausladenden Kriegsmetaphorik tendiert, ein Boris Johnson die Gefahren eher herunterspielt, verwendet Kanzlerin Merkel eine sachlich informierende Sprache und eine wissenschaftlich fundierte Argumentation. Dabei gelingt ihr der Spagat zwischen Vernunft und Einfühlungsvermögen in einer vorbildlichen Art und Weise, die auch international große Anerkennung gefunden hat.

          Mit großem rhetorischem Können verdeutlicht Merkel die Allgegenwärtigkeit des Virus und die damit verbundenen Gefahren und erreicht dabei eine starke emotionale Wirkung, indem sie die Konsequenzen der Pandemie deutlich macht: „Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern das ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt.“

          Kanzlerin Merkel demonstriert eindrucksvoll, wozu öffentliche Rede fähig ist, wie Vernunft mit Hilfe von Rhetorik handlungsmächtig werden kann und auf welche Weise gute Rhetorik Gemeinsinn und Zusammenhalt befördern kann. Merkel gelingt damit eine historische Rede, die für die erfolgreiche Bewältigung der ersten Corona-Welle von zentraler Bedeutung ist. Wie kaum eine andere Rede in den vergangenen Jahren dürfte die Fernsehansprache die deutsche Bevölkerung unmittelbar beeinflusst haben.

          Dass Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme immer wieder neu beschworen werden müssen, zeigen freilich die aktuellen Entwicklungen: Nachdem die Politik der zweiten Corona-Welle zunächst nicht mit der nötigen Entschiedenheit entgegentrat, ist es in dieser Situation wiederum Merkel, die sich mit ihrer ungewöhnlich emotionalen Rede zum Bundeshaushalt Anfang Dezember für Verantwortung und Miteinander stark macht, mit großem persönlichen Engagement dafür kämpft, dass wir als Gesellschaft der Bedrohung durch die Corona-Pandemie konsequent entgegentreten.

           

          Jury: Lukas Beck, Nico Bosler, Dr. Simon Drescher, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Clara Rohloff, Viktorija Romascenko, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier

          Ansprechpersonen
          Clara Rohloff & Lukas Beck
          Universität Tübingen
          Seminar für Allgemeine Rhetorik
          Telefon +49 70 71/ 29 – 74257
          clara.rohloff@uni-tuebingen.de / lukas-nicolas.beck@uni-tuebingen.de
          www.rhetorik.uni-tuebingen.de

          Text der Rede:
          https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/fernsehansprache-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-1732134

          Video der Rede:
          https://www.youtube.com/watch?v=caUFMAipVYI&list=PLgxOHsdLsxQNT7M2dNi_J26-WNZxXq-0-&index=97

          • 2019 – Ursula von der Leyen: Wahlrede vor dem Europäischen Parlament vom 16. Juli 2019

            „Europa einen und stärken“ – Ursula von der Leyen erhält die Auszeichnung „Rede des Jahres“ 2019

            Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen verleiht die Auszeichnung „Rede des Jahres“ 2019 an Dr. Ursula von der Leyen. Sie erhält die Auszeichnung für ihre Wahlrede vor dem Europäischen Parlament am 16. Juli 2019. Die Rede ist ein eindrucksvolles und glaubwürdiges Bekenntnis zu Europa, ein Beweis für die Integrationskraft der Idee „Europa“ und ein engagiertes Plädoyer für eine europäische Wertegemeinschaft.

            Ursula von der Leyen hatte nicht die besten Ausgangsbedingungen für ihre Bewerbung zur EU-Kommissionspräsidentin. Bis zur Abstimmung war offen, wie sich das Europäische Parlament entscheiden würde. In dieser krisenhaften Situation gelingt es von der Leyen jedoch in vorbildlicher Weise, Überzeugungsarbeit zu leisten, für ihr Programm zu argumentieren und für Europa zu werben.

            In ihrer halbstündigen Rede kämpft sie für eine Erneuerung Europas und bezieht deutlich Position zu aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und Brexit. Pointiert deutet sie die Einigung Europas als ein „gewaltiges Werk“ und beschwört das Parlament, Europa zu einen und zu stärken. Unter Beifall erklärt sie den Klimaschutz zu einer zentralen Herausforderung und wirbt überzeugend für einen „Green Deal“. In der sorgsam durchkomponierten Rede spannt sie einen weiten Bogen von Sachthemen, um schließlich einen emotionalen Appell für Europa zu formulieren: „The world needs more Europe“.

            Von der Leyen spricht engagiert und wohl artikuliert, sie zeigt mit einer akzentuierten Gestik und Körperhaltung, wie wichtig ihr Europa ist. Ihre in drei Sprachen gehaltene Rede (Französisch, Englisch, Deutsch) ist ein Muster für die Realität der politischen Rede in der vielsprachigen Europäischen Union und illustriert damit die kulturelle Vielfalt des Kontinents in souveräner Weise. In Zeiten von starker Polarisierung setzt von der Leyen auf die integrative Kraft Europas, wirbt für Einheit und Zusammenhalt. Ihr Einsatz für Europa wird dabei plausibel aus der eigenen Biographie abgeleitet: „Deshalb bin ich in Brüssel geboren und Europäerin gewesen, bevor ich später gelernt habe, dass ich Deutsche bin und Niedersächsin.“

            In Straßburg etabliert sich von der Leyen als „leidenschaftliche Kämpferin“ für Europa, die eindrucksvoll für die Idee Europa streitet, Rechtstaatlichkeit und moralische Standards hochhält. Dabei macht es sich die Rednerin nicht leicht, weil sie Probleme und Schwierigkeiten in ihrer Rede eben nicht ausspart. Ein Zitat ihres Vaters weist dabei den Weg: „Europa ist wie eine lange Ehe. Die Liebe wird nicht größer als am ersten Tag, aber sie wird tiefer.“ Am Ende steht der emotionale Ausruf „Es lebe Europa!“, ein Appell, der aus tiefstem Herzen zu strömen scheint. Damit war ihr nicht nur der Applaus der Abgeordneten sicher, sondern auch die Mehrheit der Stimmen (383 von 747).

            Jury: Jutta Beck, Nico Bosler, Dr. Simon Drescher, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Michael Pelzer, Clara Rohloff, Viktorija Romascenko, Pia Rox, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier, Peter Weit

            Ansprechpersonen
            Viktorija Romascenko & Frank Schuhmacher
            Universität Tübingen
            Seminar für Allgemeine Rhetorik
            Telefon +49 70 71/ 29 – 78456 / +49 70 71/ 29 -74 66 0
            viktorija.romaschenko@uni-tuebingen.de / frank-holger.schuhmacher@uni-tuebingen.de
            www.rhetorik.uni-tuebingen.de

            Text der Rede:
            https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_19_4230

            Video der Rede:
            https://www.youtube.com/watch?v=dR3k4fTmX5Y

            • 2018 – Cem Özdemir: Debattenbeitrag im Deutschen Bundestag vom 22. Februar 2018

              Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen verleiht Cem Özdemir den Preis „Rede des Jahres 2018“. Özdemir erhält die Auszeichnung für seinen fulminanten Debattenbeitrag im Deutschen Bundestag vom 22. Februar 2018. Darin rechnet er mit einem von der AfD gestellten Antrag ab, der darauf abzielte, den kurz zuvor freigelassenen Deniz Yücel zu maßregeln. Vehement verteidigt Özdemir den Verfassungsgrundsatz der freien Meinungsäußerung und weist die AfD in die Schranken. Seine Rede ist ein eindrückliches Plädoyer für eine offene Gesellschaft, gegen Ausgrenzung und Spaltung.

              Scharfzüngig und emotional begegnet Cem Özdemir dem Antrag der AfD, den er mit großer Verve und rednerischem Können pariert. In jeder Sekunde des kurzen Beitrags sind Leidenschaft und Engagement des Redners zu hören und zu sehen. Özdemir schafft es, eine entschlossene Verteidigung des Grundgesetzes mit einem Angriff auf den vermeintlichen Patriotismus der AfD zu verbinden und umreißt Grundzüge eines Verfassungspatriotismus, der ohne Spaltung und Ausgrenzung auskommt.

              Özdemir stellt sich mit seiner Rede vehement gegen eine Missbilligung von Texten des Journalisten Deniz Yücel, die von der AfD beantragt worden war, und erinnert an das Grundprinzip der Pressefreiheit: „Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland ist das Parlament keine oberste Zensurbehörde.“ Mit seinem Hinweis auf die Pressefreiheit offenbart Özdemir die Tragweite der Debatte um den Antrag der AfD und verteidigt das Grundgesetz in engagierter Weise. Dabei nimmt er die AfD-Auseinandersetzung mit Patriotismus und Identität auf, hält der Partei jedoch entgegen: „Sie verachten alles, wofür dieses Land in der ganzen Welt geachtet und respektiert wird.“ Vielfalt, Erinnerungskultur, parlamentarische Demokratie sind für Özdemir Kennzeichen der Bundesrepublik. Der AfD hält er vor, dass sie sich hingegen mit einem Deutschland identifiziere, das so nicht existiere, und spricht der Partei nachdrücklich das Recht ab, zu „bestimmen, wer Deutscher ist und wer nicht“.

              Stilistisch bringt Özdemir sein Anliegen mit Pointen, Zuspitzungen und anschaulichen Beispielen zum Ausdruck. Emotional und gleichzeitig argumentativ fundiert entkräftet er Positionen der AfD und erhält dafür die Zustimmung aller anderen Fraktionen. Mit ciceronianischer Wucht vermittelt er sein Anliegen äußerst lebendig, wirkt dabei authentisch und glaubwürdig. Er stellt den politischen Gegner, indem er den Antrag der AfD ernst nimmt, ihn nicht als Lappalie abtut, sondern als einen nicht zu akzeptierenden Angriff auf das Grundgesetz entlarvt.

              Mit seinem Debattenbeitrag hat Özdemir gezeigt, wie wirksam und kraftvoll eine Parlamentsrede sein kann, wenn ein Redner mit Überzeugung und Leidenschaft antritt – ein herausragendes Beispiel dafür, wie man den Populisten im Parlament die Stirn bieten kann.

              Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Viktorija Romascenko, Oliver Schaub, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier

              Im Jahr 2018 war mit Oliver Schaub erstmals auch ein von den Studierenden bestimmtes studentisches Mitglied Teil der Jury.

              Ansprechpersonen: Rebecca Kiderlen & Frank Schuhmacher
              Telefon +49 7071 29-74660/-74253
              E-Mail: rebecca.kiderlen@uni-tuebingen.de / frank-holger.schuhmacher@uni-tuebingen.de

              Text der Rede: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19014.pdf#P.1189

              Video der Rede: https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7203273#url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTcyMDMyNzM=&mod=mediathek

              • 2017 – Peter Strohschneider: Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus

                Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen hat die Rede „Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus“ von Professor Dr. Peter Strohschneider zur „Rede des Jahres 2017“ gekürt. Bei der Jahresversammlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) am 4. Juli 2017 in Halle (Saale) hielt Strohschneider ein engagiertes Plädoyer gegen populistische Vereinfachungen und alternative Fakten. Konsequent rechnet der DFG-Präsident in seiner Rede mit den populistischen Strömungen in Deutschland, Europa und den USA ab, liefert zugleich aber auch eine überraschend kritische Analyse des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs und mahnt nachdrücklich eine selbstkritische Wissenschaftspraxis an, die sich falscher Versprechen enthält.

                Mit klarem analytischen Blick skizziert Strohschneider das Phänomen des populistischen Anti-Intellektualismus anhand treffender Beispiele und bezieht deutlich Stellung zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage. Strohschneider gelingt mit seiner präzis argumentierenden Rede eine bemerkenswerte Replik auf den Vertrauensverlust, dem sich die Wissenschaft im Jahr 2017 gegenübersieht. Engagiert und bestimmt verteidigt er die Wissenschaft und nimmt sie gleichzeitig in die Pflicht, indem er fordert, dass sie sich durch qualitativ hochwertige Forschung legitimieren müsse.

                Dabei betrachtet Strohschneider nicht nur einseitig die Geringschätzung der Wissenschaft durch den Populismus, sondern fügt der gesamtgesellschaftlichen Debatte einen weiteren eminenten Gesichtspunkt hinzu: die Überschätzung des Werts der Wissenschaft. Er verteidigt demokratische Strukturen gegen „szientokratische“ Anwandlungen, nach denen „die politische Macht durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung legitimiert“ werden solle.

                Höchst politisch ist Strohschneiders Rede gerade dadurch, dass sie klar zwischen Politik und Wissenschaft differenziert. Mit eindringlichen und wohlformulierten Appellen warnt er vor einer Überschätzung der Wissenschaft: Sie sei nicht die „Instanz des Wahrheitsbesitzes“, sondern die Instanz „der rationalen, methodischen Suche nach Wahrheit.“ Aufgabe der Wissenschaft sei es, über gesellschaftliche und politische Diskurse zu informieren. Jedoch könne Wissenschaft „in Zeiten des populistischen Anti-Intellektualismus und autokratischer Wissenschaftsfeindschaft nur mit sorgfältiger Selbstbegrenzung und Selbstdistanz – wenn Sie mögen: mit Ehrlichkeit und Bescheidenheit“ ihre Legitimationskrise beenden.

                Mit seiner kritischen Stellungnahme zur gegenwärtigen politischen Entwicklung bewegt sich Strohschneider jenseits der klassischen Themen einer Wissenschaftsorganisation wie der DFG. Er bezieht mit seiner Rede politisch deutlich Stellung, spricht nicht als Funktionär, sondern als engagierter Demokrat und besorgter Wissenschaftler, der die Stimme für die Sache der Vernunft erhebt. Die von Strohschneider geforderte Redlichkeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler spiegelt sich in einem authentischen, selbstkritischen und sachlichen Redegestus wider, in dem die intellektuelle Redlichkeit des Sprechers greifbar wird. Strohschneider gelingt eine kritische Analyse der politischen Verhältnisse, die in ihrer Differenziertheit, Originalität und argumentativen Schlagkraft weit über das übliche Repertoire kritischer Ausrufe zum Populismus hinausreicht.

                Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Rebecca Kiderlen, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Viktorija Romascenko, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier

                Ansprechpersonen: Rebecca Kiderlen & Frank Schuhmacher           
                Telefon: +49 7071 29-74660/-74253
                E-Mail: rebecca.kiderlen@uni-tuebingen.de / frank-holger.schuhmacher@uni-tuebingen.de

                Text der Rede: http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2017/170704_rede_strohschneider_festveranstaltung.pdf

                Video der Rede:
                http://mediathek.dfg.de/video/rede-des-dfg-praesidenten-peter-strohschneider-festveranstaltung-2017/

                • 2016 – Norbert Lammert: Rede zum Tag der Deutschen Einheit

                  Die Auszeichnung der „Rede des Jahres“ geht in diesem Jahr an Professor Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages, für seine Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Dresdner Semperoper. Damit zeichnet das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen eine besonnene Rede inmitten einer meist stürmisch geführten politischen Debatte aus.

                  Lammert steht mit seiner Rede vor einer großen Aufgabe: er soll als hoher Vertreter des Staates eine Festrede halten, während draußen vor dem Saal Menschen gegen die Staatsvertreter protestieren. Er soll seine Freude über die Entwicklung Deutschlands ausdrücken, während draußen dessen Niedergang beschworen wird. Er soll Lob aussprechen im Augenblick der Kritik. Mit Ehrlichkeit begegnet er dieser Herausforderung: „Rundum fröhlich ist Dresden auch in diesem Jahr nicht – und Deutschland auch nicht.“ Diese Offenheit verschafft ihm Glaubwürdigkeit und zeigt, dass er sich als Redner aufrichtig mit der politischen Gegenmeinung beschäftigen will. Bereits diese Einstellung hebt seine Rede in positiver Weise von vielen der politischen Stimmen des Jahres 2016 ab.

                  Es gehört zu den großen Stärken seiner Rhetorik, deutliche Worte zu finden, sich jedoch nicht zu aggressiven Tönen verleiten zu lassen, wenn er „diejenigen, die heute am lautesten schreien und pfeifen und ihre erstaunliche Empörung kostenlos zu Markte tragen“ direkt anspricht und an jene Verantwortung erinnert, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Mit Blick auf die Demonstranten vor der Semperoper hält er fest, „Man darf sogar dagegen sein“, um am Ende doch umso stärker zu resümieren, Einigkeit, Recht und Freiheit seien mindestens „gleich drei gute Gründe zum Feiern“.

                  Lammert versteht es durch die gesamte Rede hindurch, seine politischen Botschaften für die Hörer konkret zu verdeutlichen, um seine Rede nicht zu einem der oft gesehenen Schauplätze politischer Allgemeinheiten zu machen. Dies gelingt ihm, indem er beispielsweise den stilistischen Kunstgriff der Erzählung wählt. Die Entstehung des Schriftzuges „Dem Deutschen Volke“ am Reichstagsgebäude, verbindet er in seiner Nacherzählung mit dem bewegenden Einzelschicksal des Widerstandskämpfers Erich Gloeden, der dem Terror des NS-Regimes zum Opfer fiel. Damit wird der abstrakte Gedanke, die Volksvertreter mögen dem Deutschen Volke dienen, emotional aufgeladen und die Notwendigkeit dieser politischen Forderung auf eindringliche Weise vor Augen geführt. Hierzu trägt der gekonnte Wechsel unterschiedlicher stilistischer Ebenen bei: Lammert schildert die Situation des zum Christentum konvertierten Gloeden, der sich in seinem Land sicher gefühlt habe „- zu sicher“, wie Lammert anfügt. Die so erzeugte Spannung der Erzählung kontrastiert stilistisch geschickt mit der schockierend nüchternen Aufzählung der Fakten: „Gloedens Frau, seine Schwiegermutter und er selbst wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil getötet.“ Doch Lammert bleibt nicht einfach bei der historischen Betrachtung stehen, sondern führt sie wieder zurück zu der drängenden Frage der Gegenwart – wer und was darf heute als Deutsch gelten, und wer ist eigentlich jenes deutsche Volk, für das sich noch heute die Parlamentarier unter dem Reichstagsschriftzug versammeln? Dass er diese unbequeme Thematik explizit anspricht, macht seine Rede mutig und engagiert.

                  Zugleich beweist Lammert besonderes Geschick, seine Zuhörer zu überraschen, ohne durch diese Effekte den Ernst der Thematik zu übertönen: Das lange Zitat eines Flüchtlingsberichts, der klingt wie die Flucht einer Frau aus dem Nahen Osten über das Mittelmeer, entpuppt sich als Bericht einer Kriegsflüchtigen des zweiten Weltkrieges. Doch dieser Spannungsbogen steht ganz im Dienst des eigentlichen Anliegens Lammerts: Damals wie heute, so seine Botschaft, ist die Idee einer staatlichen Einheit in Frieden in vielen Teilen der Welt bedroht. Und der anschließende Flüchtlingsbericht einer jungen Frau aus Syrien verdeutlicht, wie groß die Verantwortung Deutschlands ist, sich vor diesen Dramen nicht zu verschließen. Diesen dramaturgisch gekonnten Redeaufbau nutzt Lammert erneut, um sein Anliegen zum Festtag hervorzubringen: „Dieser Staat, dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen.“

                  Dabei gehört es zur besonderen Charakteristik der Rede, dass sich Lammert als Redner auch selbst von Emotionen bewegen lässt, etwa, wenn er von der Bombardierung des letzten Krankenhauses in Aleppo berichtet. Er steht durch seine persönliche Ergriffenheit für die Integrität seiner Worte, wirkt wohlwollend und klug, energisch und charmant. Nicht zuletzt dieser Umstand trug zu dem großen Medienecho bei, welches auf die Rede folgte. Damit wird sie zu einem bemerkenswerten Dokument politischer Rhetorik in einem Jahr, welches in vielerlei Hinsicht von öffentlicher Rede und Gegenrede geprägt war. Im Gegensatz zum herrschenden Ton des Diskurses rund um Einheit und Spaltung Deutschlands in den vergangenen Monaten, setzt Lammert ein Zeichen für die überlegte Rede, die den schrillen Auftritt vermeidet und auf die Stärken der demokratischen Gegenwart setzt. Denn Deutschland ist „sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer Verfassung als jemals zuvor.“

                  Zu der herausragenden rednerischen Qualität Lammerts zählt auch die Verbindung seines ruhigen und gefassten Vortragsstils mit einer deutlichen und kraftvollen Sprache am Ende der Rede: „Vieles ist uns gelungen, manches offenbar besser als anderen“ – mit diesen markanten Worten kann er seinen Stolz auf die Einheit Deutschlands ausdrücken, ohne einem dumpfen Nationalismus das Wort zu reden. Und zugleich formuliert er jene prägnante Mahnung, die seine Rede sprachlich so eindringlich macht: „Das Paradies auf Erden ist hier nicht.“ Aber weil doch viele Menschen in Not das Paradies in Deutschland suchen, so seine kluge Argumentation, haben wir alle eine besondere Verantwortung, den Gedanken von Einheit in Frieden hochzuhalten. Lammert gibt damit ein Vorbild für jene differenzierte Betrachtungsweise, die die politische Debatte der letzten Monate rund um die Identität dieses Landes allzu oft vermissen ließ. Seine Einheits-Rede wird so zu einem exzellenten Beispiel politischer Festrede.

                  Jury: Simon Drescher, Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, Prof. Dr. Olaf Kramer, Severina Laubinger, Viktorija Romascenko, Frank Schuhmacher, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Thomas Zinsmaier

                  Sprecher der Jury: Simon Drescher, Telefon: 07071 29-72113 E-Mail: simon.drescher@uni-tuebingen.de

                  Text der Rede:

                  https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden#url=L3BhcmxhbWVudC9wcm- Flc2lkaXVtL3JlZGVuLzIwMTYvMDA0LzQ2MjI5Ng==&mod=mod462012

                  Video der Rede:

                  https://www.youtube.com/watch?v=Jr1iBELR4kA

                  • 2015 – Rainald Goetz: Büchner-Preis-Rede sowie die zugehörige Laudatio von Jürgen Kaube

                    Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen hat die Büchner-Preis-Rede von Rainald Goetz sowie die zugehörige Laudatio von Jürgen Kaube zur „Rede des Jahres 2015“ gewählt. Das Institut zeichnet damit zwei sprachlich brillante Redebeiträge aus, die die Tradition der Festrede kunstvoll hintertreiben und ihr gerade damit neues Leben einhauchen und ihr zu neuer Wirksamkeit verhelfen. Beide Reden bilden eine komplexe Einheit: die eine Rede umspielt die andere auf feinsinnige und differenzierte Art und Weise, weshalb zum ersten Mal in der Geschichte der „Rede des Jahres“ ein Reden-Doppel ausgezeichnet wird.

                    Das Jahr 2015 war dominiert durch Trauerreden- und Krisenrhetorik: Terror in Paris, der Absturz der Germanwings-Maschine und die Griechenland-Krise dominierten das politische Geschehen und die gesellschaftliche Diskussion in Deutschland. Rainald Goetz setzt solchen Krisen-Reden ein Lob der Jugend entgegen sowie die Forderung nach beständiger Revolution und kritischer Wachheit.

                    Goetz denkt intellektuell scharfsichtig darüber nach, wie Literatur heute aussehen sollte, welche Rolle ein Schriftsteller in der Gesellschaft einnehmen kann und welche Funktion eigentlich Kulturpreise haben. Seine Ausführungen faszinieren von Beginn an durch eine verknappte, antithetische Sprache der Übersteigerung und ihre gedankliche Originalität. Schnell wird klar, dass es dem Redner nicht nur um den Kulturbetrieb geht, sein Thema ist vielmehr die „gigantische Kaputtheit“, die „entsteht „aus lauter kleinen schlechten Erfahrungen, die man dauernd mit sich selbst und anderen macht“. Die Rede oszilliert damit um die große Menschheitsfrage: „Wie sollen wir leben?“, auf die Goetz am Ende seiner Rede, die von den Medien mit großer Aufmerksamkeit bedacht wurde, überraschender- und originellerweise mit einem Song der Wiener Indie-Band Wanda antwortet: „Wenn jemand fragt, wofür du stehst sag: Für AMORE, Amore“. Ein überzeugender Appell an die Jugend und das Leben in Zeiten von Krisen und Terror und eine Rede, wie man sie seit Thomas Bernhards legendärer Preisrede aus dem Jahr 1970 in Darmstadt nicht mehr gehört hat.

                    Dabei war die diesjährige Verleihung des Büchner-Preises schon mit der Laudatio von FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube zu einem rhetorischen Event geworden. Mit spielerischer Freude und hellwachem Verstand arbeitete der sich an Rainald Goetz ab. „Lob ist schlecht“, das Zitat von Goetz bildet den überraschenden Auftakt der Laudatio, die die Unmöglichkeit des Lobs reflektiert, denn Goetz habe doch klar erkannt: „Lob erniedrigt die Welt des Gelobten, wie auch den Lobenden“, weil an die Stelle von Analyse und Argument bloße Zustimmung trete. Trotzdem gelingt Kaube ein Lob, das kraftvoll ist, ohne den Lobenden oder den Gelobten in diesem Sinne zu düpieren, indem er über die Gattung Festrede nachdenkt und zeigt, welch hohe Bedeutung Rede und Gegenrede in der Welt von Rainald Goetz haben. Kaube gelingt eine kritische Reflexion über die Wirkungsmechanismen von Rede und das kritische Potential der Rhetorik von großer intellektueller Schärfe und sprachlicher Finesse. Fast nebenbei macht er sich für eine Literatur jenseits der Fiktion stark, erklärt den „Unwillen zur Fiktion“ bei Goetz durch die Rückbindung der Literatur an das Leben. Zwar heißt es bei Goetz: „Lob ist schlimmer als Lüge“, aber für ein Lob, das so reflektiert und so vielstimmig, so sprachkritisch und so sprachmächtig ist wie das aus dem Munde von Jürgen Kaube, gilt dieser Vorbehalt sicher nicht.

                    Beide Reden bilden letztlich eine Einheit, sie spielen sprachlich in einer Klasse, sind rhetorisch hoch reflektiert, differenziert und aktualisieren die Gattung Festrede. Goetz und Kaube stehen für eine zeitgemäße Rhetorik und sind faszinierend, motivierend und provozierend in einer Weise, wie es nur wenigen Rednern und Reden gelingt.

                    Jury: Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, PD Dr. Olaf Kramer, Severina Laubinger, Frank Schuhmacher, Fabian Strauch, Viktorija Romascenko, Prof. Dr. Dietmar Till, Peter Weit und Dr. Thomas Zinsmaier

                    Sprecher der Jury: PD Dr. Olaf Kramer, Telefon 07071/29-74256. Fax 07071/29-4258. E-Mail: olaf.kramer@uni-tuebingen.de

                    Texte der Reden:

                    Jürgen Kaube: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/rainald-goetz/laudatio

                    Rainald Goetz: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/rainald-goetz/dankrede

                    Tondokument:

                    http://www.ardmediathek.de/radio/Kulturfragen-Deutschlandfunk/B%C3%BCchner-Preis-2015-Dankesrede-von-Rain/Deutschlandfunk/Audio-Podcast?documentId=31403908&bcastId=21676454

                  • 2014 – Navid Kermani: Gedenkrede zum deutschen Grundgesetz

                    Die Rede des Jahres 2014 hat Navid Kermani gehalten. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet den Schriftsteller und Orientalisten für seine Rede zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai im Deutschen Bundestag aus. In seiner Rede verbindet Kermani eine geistreiche Würdigung des Grundgesetzes mit einer deutlichen Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik. Sie endet mit einem bewegenden Dank an Deutschland. Navid Kermani gelingt eine intellektuell brillante, literarisch feinsinnige und emotional überzeugende Rede, die die Grenzen konventioneller Gedenkrhetorik sprengt.

                    Kermani wählt einen ungewöhnlichen Zugang. Er liest das Grundgesetz nicht als Rechtsdokument, sondern als ein Stück Literatur, als einen „bemerkenswert schönen Text“. So stellt er fest, dass die ersten beiden Sätze des Grundgesetzes ein Paradox bilden: „Denn wäre die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.“ Das ist eine intellektuell brillante Beobachtung, an die er eine genaue Lektüre des Grundgesetzes anschließt. Kermani bewundert jedoch nicht nur die literarische Qualität des Grundgesetzes, sondern hebt es als hart erkämpften, seiner Zeit weit vorausgreifenden, visionären Entwurf hervor.

                    Bei dieser Würdigung, die für den Anlass ohne Zweifel mehr als ausreichend gewesen wäre, bleibt Kermani nicht stehen. Er schlägt vielmehr den Bogen zur Gegenwart, indem er die Gründungsväter des Grundgesetzes, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, von einer imaginären „himmlischen Ehrentribüne“ aus auf die Gedenkstunde blicken lässt. Fast unmerklich verwandelt Kermani das Lob der Gründungsväter in eine Kritik an ihren Enkeln. Er mahnt die vor ihm sitzenden Politiker, „ihr Handeln nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen“ auszurichten. Und er formuliert eine scharfe Kritik an der „Entstellung“ des Asylrechts: Im Jahr 1993 habe Deutschland das Grundrecht auf Asyl „praktisch abgeschafft“ und dies hinter „einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt“ wurden, versteckt. Kermani fordert die Abgeordneten auf, im Angesicht drängender Probleme wie Flucht, Vertreibung, Immigration und religiöser Intoleranz, den Artikel 16 wieder in ein Grundrecht auf Asyl zurückzuverwandeln.

                    Die Vorstellung der himmlischen Ehrentribüne lässt Kermani aber auch versöhnliche Töne anstimmen, indem er den leisen, bescheidenen Verfassungspatriotismus der Deutschen hervorhebt und ihn wieder in der Form des Paradoxes beschreibt: „Dieser Staat hat Würde durch einen Akt der Demut erlangt.“ Diese Sentenz bereitet eine eindringliche und bewegende Schlusspassage vor, in der sich Kermani als Sohn von iranischen Einwanderern im Namen seiner Familie, aber auch vieler anderer Einwanderer symbolisch vor Deutschland verneigt mit den Worten „Danke, Deutschland“. Dem Redner gelingt auf diese Weise ein rhetorisches Glanzstück: Er lässt sich nicht auf die Rolle des Intellektuellen oder diejenige des Schriftstellers oder diejenige des Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft reduzieren, sondern bringt alle Facetten seiner Person gleichgewichtig und überzeugend in die Rede ein. Durch die besonnene und gelehrte Vortragsweise entwirft er gleichzeitig ein Gegenbild zu manchen ansonsten an diesem Pult gehaltenen Reden.

                    Kermanis Rede überzeugt durch eine abwägende und anregende Verbindung der klassischen Aufgaben von Lob und Tadel. Sein Ton ist leise, aber bestimmt, seine Sprache anschaulich, wohlkomponiert und eindringlich, seine Argumentation bestechend und seine persönliche Geste glaubwürdig und bewegend. Kermani zeigt sich als ein gewandter und gebildeter, sympathischer und anrührender Redner, der das Gedenken ans Grundgesetz dafür nutzt, dem Parlament auf eine besonnene und beharrliche Weise den Spiegel vorzuhalten. Mit seiner Rede beleuchtet Kermani die Grundlagen unseres Selbstverständnisses und preist das Grundgesetz als größte Errungenschaft unserer Republik.

                    Text der Rede: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/-/280688

                    Video der Rede: https://www.youtube.com/watch?v=hj_7dZO3pSs

                    Mitglieder der Jury:

                    Pia Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Severina Laubinger, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Anne Ulrich, Peter Weit, Dr. Thomas Zinsmaier.

                    • 2013 – Gregor Gysi zur NSA Affäre

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard Karls Universität Tübingen hat Gregor Gysis Bundestagsrede zum NSA-Skandal vom 18. November zur Rede des Jahres 2013 gewählt. Das Institut zeichnet damit ein engagiertes Plädoyer für eine konsequente Aufarbeitung des NSA-Skandals aus. Mit anschaulichen Worten und großer argumentativer Kraft durchleuchtet Gysi die Spähaffäre und das Verhalten der Bundesregierung, fordert eine deutsch-amerikanische Freundschaft auf Augenhöhe und: den Friedensnobelpreis für Edward Snowden.

                      In einer Zeit, in der die Bundesregierung die Dimension der NSA-Affäre klein zu reden versuchte, waren es vor allem Hans-Christian Ströbele und Gregor Gysi, die in der Sondersitzung des Bundestages in engagierten Reden ihre deutlich andere Sicht der Dinge zur Geltung gebracht haben. Sie sind der Politik der Regierung offensiv und mutig entgegengetreten. Gysi zieht dabei alle Register seiner Rhetorik: Gleich zu Beginn fordert er „Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung“, immer wieder stellt er bohrende Fragen an Kanzlerin und Innenminister und sorgt mit seinem Vorschlag, Edward Snowden den Friedensnobelpreis zu verleihen, für einen internationalen Widerhall seiner Worte. Dabei variiert Gysi zwischen scharfen Angriffen, beißender Polemik gegen das bisherige Krisenmanagement, aber auch nachdenklichen Passagen und logisch bestechenden Überlegungen über die Rolle der deutschen Geheimdienste. Wie es Gysis Art ist, die ihn zu einem der großen Redner des Bundestags macht, bricht er komplizierte technische und juristische Sachverhalte auf eine anschauliche Ebene herunter, reduziert Komplexität, um Verständlichkeit zu erreichen.

                      Gysis Vortrag überzeugt durch den Wechsel von Tonlage und Tempo. Mal unbequem und hartnäckig nachfragend, mal ruhig analytisch, dann polemisch und bestimmt, beherrscht Gregor Gysi die Klaviatur der Ausdrucksmöglichkeiten wie kaum ein anderer politischer Redner unserer Zeit. Auf diese Weise ist er schon vor der neu gebildeten großen Koalition zu der Stimme der Opposition geworden. Seine Reden finden große Aufmerksamkeit in den traditionellen Massenmedien, aber auch auf YouTube, Facebook und bei Twitter, auch weil er das deutliche Wort nicht scheut, mit Blick auf die NSA-Affäre etwa von „Duckmäusertum“ spricht, mehr „Mumm“ auf Seiten der Kanzlerin fordert, dem damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich vorwirft, er habe sich „einlullen“ lassen.

                      Vor allem aber zeichnet den Redner Gysi Spontaneität aus – auf der Talkshowbühne genauso wie im Bundestag. So können Merkel, Friedrich und andere auch deshalb den Angriffen Gysis kaum entkommen, weil er sie direkt anspricht, spontan auf sie reagiert und Zwischenrufe souverän pariert. Er nimmt das unmittelbar vorhergegangene Wort von der „Wertegemeinschaft“, die uns mit den USA verbinde, in seiner Rede gekonnt auf. Er fragt nach und analysiert, was „Wertegemeinschaft“ und „Freundschaft“ eigentlich bedeuten. Ein guter Redner muss auch ein guter Zuhörer sein, auf den Kontext reagieren, so wie Gysi das nicht nur in seiner Rede zur NSA-Affäre vorführt.

                      Gysi liefert alles in allem ein vorbildliches Beispiel einer Oppositionsrede, die sich eben nicht zufrieden gibt mit den Aussagen der Regierung, sondern kritisch nachfragt und auf den Punkt kommt. So bleibt Gysi nicht bei der tagespolitisch aktuellen NSA-Affäre stehen, sondern nutzt das Thema, um über die deutsch-amerikanische Freundschaft und die deutsche Souveränität auch grundsätzlich nachzudenken. Dieser Blick über das tagesaktuelle Geschehen hinaus ist selten geworden in unserer Zeit. Es zeichnet Gysis Rede daher in besonderem Maße aus, dass sie ein Ideal von Freundschaft und Souveränität den tagespolitischen Entwicklungen entgegen­hält, über die Auseinandersetzung mit der Gegenwart die Zukunft nicht aus den Augen verliert.

                      Jury: Claudia Gruhn, Jasmina Gherairi, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Severina Laubinger, Prof. Dr. Dietmar Till, Lisa Überall, Dr. Anne Ulrich.

                      Sprecher der Jury: Dr. Olaf Kramer, Telefon 07071/29-74256. Mobil 0170/296 2327. Fax 07071/29-4258.

                      E-mail: olaf.kramer@uni-tuebingen.de www: www.rhetorik.uni-tuebingen.de

                      Text der Rede:

                      <http://www.gregorgysi.de/reden/einzelansicht/zurueck/dr-gregor-gysi-reden/artikel/edward-snowden-asyl-gewaehren/>

                      Video der Rede:

                      <http://www.youtube.com/watch?v=hp0FVvpfbFU>

                    • 2012 – Marcel Reich-Ranicki: Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

                      Marcel Reich-Ranicki hat am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, im Deutschen Bundestag die Rede des Jahres 2012 gehalten. Mit der Schilderung einer persönlichen wie welthistorischen Schlüsselszene aus dem Warschauer Ghetto entfaltet er auf eindringliche und äußerst ungewöhnliche Weise die Macht des gesprochenen Wortes. Reich-Ranicki verweigert sich der konventionellen Gedenkrhetorik und verzichtet auf Appelle, Mahnungen oder Forderungen. Stattdessen rückt er das Prinzip der Evidenz, namentlich die Vergegenwärtigung eines entscheidenden Moments in der Vernichtungsgeschichte der Juden, in den Vordergrund.

                      Nicht mehr als zwei einleitende Sätze braucht Reich-Ranicki, um sein Anliegen anzukündigen: Ich soll heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Ghettos. Damit verweist der zum Zeitpunkt der Rede 91-Jährige auf sein Ethos als Augenzeuge und Holocaust-Überlebender, das seinem Bericht eine hohe Authentizität und emotionale Kraft verleiht. Dann begibt er sich mitten hinein in die Schilderung einer Szene, die in der Deportation der Juden aus Warschau kulminiert. Diese, so Reich-Ranicki in seinem so schlichten wie bedrückenden Schlusssatz, hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.

                      Aus der narrativen Verdichtung der Rede entspringt ihre höchst überzeugende Wirkung: Die detailgetreue, von subjektiven Wahrnehmungen und atmosphärischen Eindrücken durchzogene Erinnerung führt den Zuhörern die Grausamkeit der Judenvernichtung direkt vor Augen. Reich-Ranicki gelingt eine kunstvolle und ergreifende, aber an keiner Stelle pathetische Erzählung, die sich mit großer Sensibilität gerade auch der Widersprüchlichkeiten der Ereignisse annimmt: Zum Umsiedlungs- Beschluss etwa ertönen Strauß-Walzer an einem warmen und sonnigen Sommertag; die Eheschließung mit Reich-Ranickis Frau Teofila findet in äußerster Eile und unter unmittelbarer Todesangst statt. Auf diese Weise ermöglicht Reich-Ranicki seinen Zuhörern ein Nach-Erleben und Nach-Empfinden, das nur ein Zeitzeuge hervorrufen kann..

                      Die Rede, teils mit brüchiger, teils aber auch mit gewohnt kräftiger Stimme und dezidierter Gestik vorgetragen, ist ein beeindruckender, kraftvoller und authentischer Beitrag zum Gedenken an den Holocaust in Deutschland. Dies ist gerade in einer Zeit von eminenter Bedeutung, in der es nur noch wenige Überlebende des Völkermords an den Juden gibt und in der unser Land gleichzeitig unter dem Eindruck rechtsextremen Terrors steht.

                      Jury
                      Jasmina Gherairi, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Thomas Susanka, Prof. Dr. Dietmar Till, Lisa Überall, Dr. Anne Ulrich, Peter Weit, Dr. Thomas Zinsmaier

                      Sprecherin der Jury
                      Dr. Anne Ulrich

                      Die Rede
                      Text der Rede
                      Video der Rede (Die Rede Reich-Ranickis beginnt etwa bei Minute 20:30 und endet bei Minute 52:00.)

                      Stellungnahmen in der Presse
                      Prof. Dr. Dietmar Till im SWR

                    • 2011 – Jean Ziegler: Der Aufstand des Gewissens

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet in diesem Jahr eine Rede aus, die nicht gehalten wurde, aber dennoch eine große öffentliche Wirkung entfaltet hat. Es handelt sich um die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele, die der Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler dort am 20. Juli 2011 gehalten hätte, wäre er nicht wieder ausgeladen worden. Die dennoch niedergeschriebene und veröffentlichte Rede ist eine unverblümte Anklage der „Großbankiers“ und „Konzern-Mogule“ und ein leidenschaftliches Plädoyer für den Kampf gegen die weltweite Hungersnot.

                      Die wörtlich wie sprichwörtlich ungehaltene Rede unterläuft wie viele große Reden die Konventionen: An die Stelle einer festlichen, höchstens an manchen Stellen ein wenig nachdenklichen oder mahnenden Wohlfühlrede, wie sie oft genug gehalten wird, setzt Ziegler einen aufrüttelnden Appell, ja, eine Provokation. Ganz ohne Umschweife beginnt er mit dem Satz: Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind, der dann weitergeführt wird zur ungewohnt deutlichen These: Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Die dramatische Lage verdeutlicht der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung anhand zahlreicher Beispiele aus Ostafrika. Gerade die sachliche, aber keineswegs emotionslose Schilderung der verschiedenen Stadien des Hungertods unterstreicht die Dringlichkeit des Appells und verdeutlicht zugleich das leidenschaftliche Engagement des Redners selbst.

                      Jean Ziegler macht Großkonzerne und andere gewissenlose Akteure des Finanzkapitalismus für die weltweite Hungersnot verantwortlich und hätte damit auch einen Teil des Festpublikums in Salzburg gezielt angeklagt. Als einen Ausweg zeichnet er die bewegende Macht der Kunst an die Wand, die auch die dickste Betondecke des Egoismus durchdringe. Daraus resultierend fordert Jean Ziegler mit einer langen Reminiszenz an Bertolt Brechts Mutter Courage einen Aufstand des Gewissens.

                      Das Salzburger Festpublikum hat diese Rede nicht gehört, dafür hat sie in schriftlicher Form ein weitaus größeres Publikum gefunden. Innovativ ist zudem die im Nachhinein vorgenommene Performanz der Rede für das Internetportal YouTube, die eine große Resonanz fand und somit auch auf diesem Wege dem leider immer aktuellen, doch viel zu oft von vermeintlich wichtigeren Themen verdrängten Problem des Hungers in der Welt zu breiter Aufmerksamkeit verholfen hat.

                      Jury
                      Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Prof. Dr. Dietmar Till, Dr. Anne Ulrich, Peter Weit, Nikola Wiegeler

                      Sprecherin der Jury
                      Dr. Anne Ulrich

                      Text der Rede

                      Video der Rede (Teil 1)

                      Video der Rede (Teil 2)

                      Stellungnahmen in der Presse

                    • 2010 – Margot Käßmann: Predigt im Neujahrsgottesdienst der Dresdner Frauenkirche

                      Margot Käßmann hat die Rede des Jahres 2010 gehalten. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet ihre Predigt im Neujahrsgottesdienst in der Frauenkirche Dresden aus. In bemerkenswert unkonventioneller Weise ist es der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland gelungen, im Gewand der Predigt eine unbequeme politische Rede zu halten, die bundesweit Wellen geschlagen hat.

                      Käßmann macht die Jahreslosung Euer Herz erschrecke nicht zum Ausgangspunkt einer ungewöhnlich realistischen, erfrischend lebensnahen und undoktrinären Neujahrspredigt, die den Blick auf einen Kristallisationspunkt menschlicher Existenz lenkt: das tiefe Erschrecken angesichts bedrohlicher Lebensumstände und existenzieller Ängste. Dabei versteht sie es, ihren Zuhörern mit klarem Blick auf deren vielfältige Lebenslagen Mut zuzusprechen. Ihre Botschaft: Nichts ist gut in der Welt, aber der Mensch muss trotzdem nicht erschrecken. In diesem Spannungsfeld zwischen Illusionslosigkeit und der Forderung nach unbeirrbarer Zuversicht entwickelt sie ihre Rede. Von der Klimapolitik über den Spitzensport und die Kinderarmut bis hin zum Afghanistan-Krieg greift Käßmann treffsicher Themen von gesellschaftspolitischer Brisanz auf.

                      Zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg in Afghanistan offiziell nicht als Krieg bezeichnet wurde und Infragestellungen des Kriegseinsatzes äußerst umstritten waren, hatte Käßmann den Mut, Friedensüberlegungen anzumahnen und politische Lösungen zu fordern. Ihr viel zitierter Satz Nichts ist gut in Afghanistan hat in der Politik massive Kritik ausgelöst, letztlich aber entscheidend dazu beigetragen, eine weitreichende Debatte über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr anzustoßen, die inzwischen auch zu politischen Konsequenzen geführt hat. Es ist Margot Käßmanns Verdienst, dass sie diese Gelegenheit in ihrer Neujahrspredigt nicht verstreichen ließ, sondern wahrhaft unerschrocken beim Schopfe ergriff und damit den friedensethischen Grundsätzen der Kirche im besten rhetorischen Sinne zu gesellschaftlicher Geltung verhalf.

                      Die Rede zeichnet sich durch einen klaren und verständlichen Stil aus, besticht durch eine anschauliche Sprache mit für jedermann anschlussfähigen und dennoch persönlichen Beispielen und einen so deutlichen wie versöhnlichen Ton. Damit entspricht sie allen rhetorischen Anforderungen zur Elaborierung einer Rede, wurde bei einem herausragenden und dann als spektakulär wahrgenommenen Ereignismoment gehalten und zeigte enorme Wirkung.

                      Jury
                      Jasmina Gherairi, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Michael Pelzer, Lisa Überall, Anne Ulrich, Peter Weit

                      Sprecherin der Jury
                      Anne Ulrich

                      Text der Rede

                    • 2009 – Sigmar Gabriel: Rede auf dem SPD-Parteitag

                      Die Rede des Jahres 2009 hat Sigmar Gabriel gehalten. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet seine Rede auf dem SPD-Parteitag am 13. November 2009 in Dresden aus. In einer für die SPD katastrophalen Krisensituation ist es Gabriel gelungen, mit Selbstkritik, Scharfsinn und Gelassenheit, aber auch Witz und persönlicher Ausstrahlung das Vertrauen der Delegierten zu gewinnen und die Partei für ihren Weg aus der Krise zu stärken. Damit hat Gabriel diese besonders herausfordernde rhetorische Situation mit Bravour gemeistert.

                      Gabriel hat es in dieser äußerst brisanten Situation verstanden, eine kluge und besonnene Analyse mit einer großen Souveränität und Gelassenheit auf der Rednerbühne zu präsentieren. Trotz ihrer außerordentlichen Länge von knapp zwei Stunden wird die Rede nie langweilig und bringt an jeder Stelle das persönliche Engagement und die rednerische Präsenz

                      Gabriels zum Vorschein. Auf dem Parteitag gefeiert, traf die Rede auch auf ein breites publizistisches Echo.

                      Den Ausgangspunkt von Gabriels Rede bildet die schonungslose Feststellung: Wir haben eine historische Niederlage erlitten, obwohl wir in einer Zeit leben, die geradezu nach sozialdemokratischen Antworten schreit. Die Partei habe jedoch mehr als nur ein Kommunikationsproblem. Dieses Problem löst Gabriel nun mit Raffinement, indem er im klassisch-rhetorischen Sinne die schwächere Sache zur stärkeren macht: Zu sehr habe sich die Partei der Mitte als einem politisch-gesellschaftlichen Ort anpassen wollen und sich von ihren Grundüberzeugungen entfernt. Dabei sei die Mitte kein Ort, sondern werde durch die Deutungshoheit der Gesellschaft definiert, im gesellschaftlichen Diskurs erst geschaffen. Diese Grundeinsicht der politischen Rhetorik wird von Politikern selten offen reflektiert und ausgesprochen. Es schließt sich folgerichtig die Forderung an, dass die Partei diese Meinungs­hoheit die in der Rhetoriktheorie als doxa bezeichnet wird nun wieder erringen müsse. Ga­briels Rede ist demnach als ein großangelegter Versuch zu verstehen, diese doxa kritisch und in Einvernehmen mit der Basis wie den unterschiedlichen Flügeln der SPD zu definieren und somit zu einer umfassenden Neuakzentuierung der politischen Landschaft zu führen.

                      Jury
                      Jasmina Gherairi, Prof. Dr. Joachim Knape, Prof. Dr. Josef Kopperschmidt, Olaf Kramer, Anne Ulrich, Peter Weit, PD Dr. Temilo van Zantwijk.

                      Sprecherin der Jury
                      Anne Ulrich

                      Text der Rede
                      Video der Rede

                    • 2008 – Joachim Kaiser: Laudatio auf Anne Sophie Mutter

                      Die Auszeichnung zur Rede des Jahres durch das Seminar für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen gilt diesmal der Laudatio, die Joachim Kaiser auf Anne Sophie Mutter gehalten hat: „Wie ihre Kunst die Musikwelt veränderte.“ Wenn ein großer Redner und eine große Künstlerin zusammentreffen, so ist das ein seltener Glücksfall. Mit seiner Rede ehrt Joachim Kaiser eine einzigartige künstlerische Leistung und führt uns zugleich in eine andere Welt, in der sich Ernst und Anmut, Disziplin und Heiterkeit zum wahrhaft menschlichen Lebensinhalt verdichten.

                      Was der Redner über ihre Konzerte sagt: „Sie gehen über den Rahmen des Gewohnten, Schönen, Alltäglichen astronomisch hinaus“, gilt auch für ihn selber, der die Musik-Kritik und Musik-Interpretation auf eine Höhe gebracht hat, die singulär ist und dem Kenner ebenso großen Gewinn bringt wie dem musikliebenden Laien. Mit welcher Leichtigkeit Kaiser fast wie nebenbei auch in dieser Rede erhellende Einsichten über die zeitgenössische Violin-Literatur und Anne Sophie Mutters unerhörte Interpretationskunst einflicht, wie er Anekdotisches, eigene Erlebnisse und subtile Erklärung miteinander verknüpft, ist eine hinreißende rednerische Leistung. Sie wird vom rhetorischen Geheimtip zur Rede des Jahres 2008, weil sie einen eigenen kategorischen Imperativ enthält: die Welt der Zahlen und Figuren, der ökonomischen Verwertbarkeit und hemmungslosen Ausbeutung zu überschreiten, auf das nie erlöschende Licht der Musik hin. Es gibt nicht Aktuelleres als Kaisers so indirekt liebenswürdige wie radikale Absage an den Ungeist der Zeit, in der wir leben.

                      Jury
                      Seminar für Allgemeine Rhetorik

                      Sprecher der Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding

                      Text der Rede

                    • 2007 – Oskar Lafontaine: Rede in der Debatte zum Bundeshaushaltsplan 2008

                      Die Rede des Jahres 2007 hat Oskar Lafontaine gehalten. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet in diesem Jahr Lafontaines Debattenrede vor dem Deutschen Bundestag vom 12. September aus. Sie vereint alle rhetorischen Vorzüge: argumentiert überzeugend, scheut nicht vor unpopulärer Kritik zurück, formuliert scharf, anschaulich und gibt den Benachteiligten in unserer Gesellschaft eine wirkungsvolle Stimme.

                      Besondere Glaubwürdigkeit gewinnt die Rede dadurch, dass sie eine unermüdlich schönredende Regierungsrhetorik mit der Wirklichkeit in unserem Lande konfrontiert. Lafontaine beruft sich auf soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und das Völkerrecht, betont den Anspruch auf Bildung für alle und fordert nach inzwischen vergessener sozialdemokratischer Tradition, dass sich Leistung auch lohnen müsse. Er bezieht sich also auf Allgemeinüberzeugungen und Werte, ohne die keine Gesellschaft überlebensfähig ist, die aber in Deutschland mit bestürzender Schnelligkeit zerfallen und im politischen Handeln keine praktische Bedeutung mehr besitzen.

                      Leitmotivisch bewegt sich der Redner an dem Motto Deutschland hat allen Grund zur Zuversicht der vorangegangenen Merkel-Rede entlang, denunziert es Schritt für Schritt als Leerformel, spart nicht mit Beispielen, mit sarkastischen, auch witzigen Urteilen und bringt ein zentrales Element politischer Rede zur Geltung: humanes Engagement als Handlungsmaxime demokratischer Politik.

                      Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding, Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Boris Kositzke

                      Text der Rede
                      Video der Rede

                    • 2006 – Papst Benedikt XVI: Vorlesung an der Universität Regensburg

                      Die Regensburger Vorlesung des Papstes vom 12. September 2006 ist vom Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zur Rede des Jahres 2006 gewählt worden. Damit würdigt das Seminar für Allgemeine Rhetorik eine Rede, die ein ungewohntes Maß an weltweiter Aufmerksamkeit errungen hat und jenseits tagespolitischer Meinungen und Rücksichten eine Antwort auf Frage nach dem richtigen Umgang mit religiösen Fundamentalismen formuliert.

                      Das Thema dieser gezielt mißverstandenen Rede ist das Verhältnis von Vernunft und Glauben im Christentum und die Bekräftigung christlicher Überzeugung, daß vernünftig zu handeln dem Wesen Gottes entspricht. Der Redner betont diese Errungenschaft als eine Erbschaft griechischen Denkens, das die christliche Religion in ihrer langen Geschichte bis zu ihrer heutigen humanen Kenntlichkeit verändert hat.

                      Im Zeitalter religiöser Fundamentalismen in vielen Ausprägungen und neuer Glaubenskämpfe, aber auch eines esoterisch-irrationalistischen Religionsverständnisses, dem oft ein flacher Aufkläricht (Lessing) entspricht, bedeutet die Rede des Papstes eine höchst engagierte, argumentativ präzise und historisch gesättigte Ortsbestimmung christlichen Glaubens aus griechischem Geist. Nur modellhaft zitiert der Redner den Dialog zwischen dem byzantinischen Kaiser Manuel II. und einem gelehrten Perser vom Ende des 14. Jahrhunderts. Dieser Dialog illustriert lebendig den humanisierenden Einfluß des griechischen Logos auf den christlichen Glauben und das Unverständnis, das ihm der Islam entgegenbringen mußte. Daß einige aus dem Zusammenhang gerissene Sätze aus diesem exemplarisch zu verstehenden Dialog solches Aufsehen erregen konnten, belegt mehr als 500 Jahre später seine ungebrochene Aktualität.

                      Die Rede ist in ihrer vielstimmigen und doch geradlinigen Komposition meisterhaft gebaut. Der Papst bringt sowohl seine eigene Biographie ins Spiel wie seine kritische Vernunft und religiöse Überzeugung. Er beeindruckt durch einen ungewohnt persönlichen und zugleich reflektierten Redegestus, der darauf aus ist, andere mit Mitteln der Vernunft zu überzeugen. Ausgehend von den eigenen akademischen Anfängen, fragt der Redner nach der Berechtigung der Theologie im Kreise der anderen Universitätswissenschaften, um schließlich in dieser Plazierung das Ergebnis einer zweitausendjährigen wechselvollen Geschichte der Hellenisierung des Christentums zu erkennen. Das geschieht in einer für die akademische Redegattung Vorlesung vorbildlichen gedanklich konzentrierten, dabei immer historisch anschaulichen und argumentativ überzeugenden Weise, in der sich eben jene Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken äußert, die einst Kaiser Manuel schon von einem Gläubigen erwartete. Dabei zeigt sich der Papst auch darin griechischem Denken mit seiner Kraftquelle, der agonalen Streitkultur, verpflichtet, daß er seine Thesen mutig und entschieden, also ohne die oft als Dialog getarnte Bereitschaft zu Beschwichtigung und Anpassung vorträgt.

                      Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding, Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Olaf Kramer

                      Text der Rede
                      Video der Rede

                    • 2005 – Werner Schulz: Mündliche Erklärung nach der Aussprache zur Vertrauensfrage

                      Die mündliche Erklärung des Abgeordneten Werner Schulz (Bündnis90/Die Grünen) nach der Aussprache zur Vertrauensfrage des damaligen Bundeskanzlers (in der 185. Sitzung des Deutschen Bundestages in Berlin am 1. Juli 2005) ist zur Rede des Jahres 2005 gewählt.

                      Die Rede von Werner Schulz war der beherzte Einspruch gegen ein zwar legales aber doch politisch kurzsichtiges Kalkül und einen opportunistischen Konsens: Immer begleitet und unterbrochen vom Beifall der falschen Seite erhob hier ein aufrechter Demokrat die Stimme gegen die Verschwörung für Machterhalt oder Machterwerb, selbst noch in einem Augenblick, in dem sie längst unaufhaltsam war. Für eine Rede ist der rechte Augenblick, ihr kairos, ein wichtiges Kriterium; Schulz kam nicht zu spät mit seiner Intervention es war vielmehr das abschließende Verdikt über eine parlamentarische Farce. Die Kürze der Rede mag durch Geschäftsordnung erzwungen sein, doch liegt in der brevitas zugleich ihre Schärfe und ihre Entschiedenheit begründet: Beschwichtigung, Ablenkung und Betrug brauchen dagegen Aufwand und viele Worte. Sein knapp bemessenes Rederecht nutzte Schulz zu einer Kritik, die sachlich gerechtfertigt gewesen ist, zu einer Analyse, die sich inzwischen als historisch hellsichtig erwiesen hat, und zu einem persönlichen Bekenntnis, das Respekt verdient. Über die Güte einer Rede entscheidet letztlich nicht ihr unmittelbarer Erfolg es entscheidet, ob der Redner alles getan hat, was rhetorisch getan werden konnte. Wenn also auch die Worte des Abgeordneten Schulz politisch folgenlos gewesen sein mögen, werden sie über den Augenblick hinaus moralisch wirksam bleiben, weil sie daran erinnern, dass Politik [] keinen Schritt tun [darf], ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben (Kant).

                      Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding, Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Boris Kositzke

                      Text der Rede

                    • 2004 – Heribert Prantl: Zivilgesellschaft ist vitaler Verfassungsschutz

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Eberhard-Karls-Universität Tübingen hat Heribert Prantls Rede Zivilgesellschaft ist vitaler Verfassungsschutz zur Rede des Jahres 2004 gewählt. Eindringlich, anschaulich und jenseits abgenutzter Phrasen analysiert der Redner in dem Text vom November 2004 Ursachen und Folgen des Rechtsextremismus und weist überzeugende Perspektiven zur Rückeroberung des öffentlichen Raumes von den Rechtsradikalen.

                      Wieviel Nazis gibt es hier? Diese Frage ist mutige Provokation in manchen Teilen Deutschlands, und Heribert Prantl eröffnet mit ihr eine Rede zum Thema Rechtsextremismus, die ihresgleichen sucht. Prantl gelingt es, die Realität rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland ohne falsches Pathos anschaulich zu machen und die Wirkungen rechtsextremer Strukturen mit klaren und überzeugenden Worten zu analysieren. Dabei ist das Thema Rechtsextremismus rhetorisch heikel, vor einer demokratisch gesinnten Gruppe machen es sich die Redner meist zu leicht, ein pathetischer Appell scheint alles zu sagen, argumentiert wird nicht. Anders bei Prantl, in seiner Rede zur Verleihung der Kesten-Medallie an die Initiative Bunt statt Braun, die den Einsatz für Demokratie und Toleranz in ihr Programm geschrieben hat, liefert er eine scharfsinnige Analyse des Phänomens Rechtsextremismus.

                      Prantls erschreckende Beispiele verweigern sich allzu simplen Lösungsmustern: da ist die Lehrerin, die nicht weiß, wie sie auf den Hitler-Gruß eine Schülers reagieren soll, der Jugendliche, der einen Ausbildungsplatz nur in einer von Rechten unterlaufenen Werkstatt findet und das kleine Dorf, in dem schon derjenige ein Linksextremer ist, der das Grundgesetz verteidigt. Einfache Lösungen gibt es in solchen Situationen nicht, und der Redner gaukelt sie auch nicht vor. Vielmehr zeigt er eindringlich, wie die Ideologie der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz unsere Gesellschaft schleichend verändert. Die italienische Mafia, auf die Prantl dabei verweist, ist ein ebenso ungewöhnlicher wie treffender Vergleich.

                      Meisterhaft gelingt Prantl in seiner Rede die Balance zwischen Mahnung und Motivation, er macht unmißverständlich klar, was für uns alle auf dem Spiel steht, und zeigt, wie ein einzelnes mutiges Wort gegen Rechtsradikalismus seinen Beitrag zur Stärkung demokratischer Strukturen leistet. Daß die Bürger den Staat machen, ist eine vielzitierte Phrase. Prantl macht deutlich, was sie meint: Gesellschaft ist keine abstrakte Größe, sie entsteht im alltäglichen Miteinander. Im öffentlichen Raum gilt es daher laut seiner scharfsinnigen Analyse, die Grundwerte unserer Gesellschaft immer wieder neu zu definieren. Dabei darf der Blick nicht auf Deutschland beschränkt bleiben. In Auseinandersetzung mit Joseph Roth haucht Prantl dem Bild vom europäischen Haus, das abgenutzt und stumpf erscheint, neues Leben ein und verleiht ihm neuen rhetorischen Glanz: er sieht Europa als Haus mit vielen Türen und Zimmern, europäisches Gemeingefühl und patriotische Überzeugung schließen sich nicht aus, solange sie auf demokratischen Werten beruhen und der öffentliche Raum von Freiheit und Meinungsvielfalt und nicht von Gewalt und Ungleichheit beherrscht wird.

                      Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding, Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Olaf Kramer

                      Text der Rede

                    • 2003 – Eberhard Jüngel: Predigt über Genesis 16

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat in diesem Jahr eine Predigt zur Rede des Jahres 2003 gewählt: Eberhard Jüngels Predigt über Genesis 16 in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin.

                      In einer Zeit des Niedergangs der geistlichen Rede zum Alltagsgerede über Gott und die Welt stellt Jüngels Predigt die Maßstäbe wieder her, die diese Gattung seit Augustinus zu einem besonders ausgezeichneten Ort rednerischer Wirksamkeit gemacht haben. Sie ist ein Gipfelpunkt der Predigtgeschichte in Bibelinterpretation und rhetorischer Darstellung zugleich und führt damit einer von aller Beredsamkeit verlassenen Pfarrer- und Pastorengeneration geradezu musterhaft die reichen Möglichkeiten substantieller und wirkungsvoller biblischer Verkündigung vor Augen und Ohren.

                      Schon Augustinus hatte gegen das auch heute immer wieder vernehmbare Vorurteil gekämpft, daß sich die göttliche Wahrheit ohne jeden rednerischen Beistand schon ihren Weg in die Herzen der Gemeinde bahnen werde. Sollen die Feinde der Wahrheit, fragte er ironisch, bei dem Versuch, ihre Zuhörer in den Irrtum zu treiben, deren Gemüt schrecken, betrüben, erfreuen, feurig ermahnen dürfen; die Verteidiger der Wahrheit aber sollen eine kalte und matte Rede voll Schläfrigkeit halten müssen? Die kalte und matte Rede ist zur Regel geworden, von der Kanzel hört man platte politische Meinungsreden oder feuilletonistische Plaudereien, die mit verkrampften Volten an religiöse Maximen zurückgebunden werden. Jüngel demonstriert dagegen, wie unerschöpflich und unersetzlich die biblischen Geschichten für die christliche Predigt sind, wenn man sie denn zu lesen und die in ihnen selber verschlossene Aktualität aufzufinden und für die Gemeinde zu öffnen versteht. Daß er sich dazu gerade ein schwieriges Exempel ausgesucht hat, macht des Meisters Ehre: Sara aber, die Frau Abrahams, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. Und Sara sagte zu Abraham: ‚Siehe doch: Jahwe hat mir Kinder versagt. So geh doch zu meiner Magd, vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen!‘ Wie der Kanzelredner nun zwischen den Zeitaltern vermittelt, den kulturellen und historischen Hintergrund der biblischen Erzählung mit unserer Denk- und Lebensart, die alttestamentarische Sexualmoral mit der modernen konfrontierend, aus der so veraltet wirkenden Geschichte einen unveralteten, unabgegoltenen Kern herauspräpariert, das ist ein hermeneutischer und rhetorischer Geniestreich, dem wir die größte Verbreitung in und außerhalb der Kirchen wünschen.

                      Jury
                      Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Olaf Kramer

                      Text der Rede

                    • 2002 – Das Kanzlerduell

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat den TV-Duellen zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber die Auszeichnung Rede des Jahres 2002 verliehen. Somit geht die Auszeichnung diesmal nicht an eine Rede und einen Redner, sondern an eine Debatte. Mit dieser Entscheidung trägt das Seminar der Ausnahmestellung der Kanzlerduelle Rechnung, die jeweils mehr als 15 Millionen Zuschauer in ihren Bann zogen und wie nie zuvor in der bundesdeutschen Geschichte ein rhetorisches Ereignis in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt haben.

                      Die beiden Redner entfalteten in den Debatten ein großes Repertoire rhetorischer Fähigkeiten, agierten mal sachlich-argumentativ, mal pathetisch-emotional, mal schlagfertig-scherzhaft. Waren die Regeln beim ersten Aufeinandertreffen noch starr und das Gespräch nur wenig lebendig, gelang in der zweiten Debatte immer wieder auch ein wirklicher Gedankenaustausch, man verweilte bei einer Sache, um sie kontrovers zu klären, argumentierte detailgenau und kenntnisreich. Doch blieb das Gespräch dabei keineswegs in Kleinigkeiten stecken, auch die programmatischen Leitlinien der Politik waren Thema. Kanzler und Kandidat erläuterten jeweils ihr Deutschlandprojekt, konfrontierten ihre unterschiedlichen Modelle von Wirtschafts-, Außen- und Sozialpolitik. Dabei wurde die Beziehung von politischem Plan und Wirklichkeit deutlich, denn die Redner beschrieben auch die ganz konkreten Folgen ihrer politischen Agenda, sprachen anschaulich und verständlich.

                      Ohne Zweifel flüchteten sich die Kontrahenten immer wieder in Phrasen und allgemeine Proklamationen, doch gelang es, dann abermals zum sachlichen und engagierten Dialog, zum Gespräch zurückzukehren. Die TV-Debatten waren dabei als rhetorisches Ereignis mehr als eine bloß mediale Inszenierung, denn Politik selbst ist nichts anderes als sprachliches Handeln. Politische Probleme sind auch außerhalb des Fernsehstudios nur im sprachlichen Miteinander und Gegeneinander zu klären, und eben dieses Mit- und Gegeneinander ließ sich in den Gesprächen trefflich beobachten. Politik ist Sprache: das Diktum Hannah Arendts hat noch immer Gültigkeit, und die Debatten trugen genau diesem Zusammenhang Rechnung, so daß bei aller Kritik an manchen offenkundig auswendig gelernten Passagen, an Phrasen, körpersprachlichen Ungeschicklichkeiten und argumentativen Leerläufen die grundsätzliche Bedeutung der Fernsehbegegnung Schröder-Stoiber ganz unbestreitbar ist. Die Fernsehdebatten ermöglichen die mediale Umsetzung politischer Wirklichkeit, sie können ein Exempel moderner politischer Beredsamkeit sein, das die Wirkungsmacht der Rhetorik und die enge Zusammengehörigkeit von öffentlicher Rede und Demokratie eindrücklich beweist.

                      Jury
                      Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Olaf Kramer, Boris Kositzke

                      Video des ersten Duells

                    • 2001 – Rolf Hochhuth: Jacob Grimm oder Angst um unsere Sprache

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat die Rede Jacob Grimm oder Angst um unsere Sprache des Dramatikers und Essayisten Rolf Hochhuth zur Rede des Jahres 2001 gewählt.

                      Die Rede Rolf Hochhuths ist ein streitbares Plädoyer zur Rettung der deutschen Sprache, der deutschen Literatur freilich oft mit dem resignierten Unterton eines Kampfes für die beinahe schon verlorene Sache: Hochhuth sieht, dass Sprache nicht ein dauernder Besitz ist, deren ein Volk, eine Nation sicher sein können sondern dass Sprache verloren gehen kann, zeitweise oder auch auf ewig wie die Freiheit, die ja auch stets erneut behauptet, erkämpft werden muss. Es ist denn auch die politische Literatur, die politische Lyrik zumal, in der sich für Hochhuth politische Bedeutung und sprachliche Kraft in exemplarischer Weise verbinden. Ästhetik und Engagement gehören für ihn selbstverständlich zusammen, gegen pseudo-romantische Kunstverklärung oder naiv-rationales Politikverständnis ganz in der Tradition rhetorischer Theorie und wirkungsvoller Beredsamkeit seit der Antike.

                      Die humane und humanisierende Macht der Sprache droht der deutschen Politik, der deutschen Gesellschaft insgesamt verlorenzugehen. Während dem Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan keine Kosten mehr im Wege stehen, zieht sich die deutsche Außenpolitik aus kulturellen Gebieten zurück und werden Goethe-Häuser in aller Welt geschlossen. Doch nicht nur die Kenntnis der deutschen Sprache im Ausland geht zurück von ihrer Bedeutung als Amts- oder Arbeitssprache in internationalen politischen Organisationen und als Fachsprache auf internationalen wissenschaftlichen Kongressen ganz abgesehen , auch unsere alltägliche Rede verkommt zu deutsch-englischem Sprachgulasch. Doch nicht im zufälligen, vorübergehenden Konsens über Werte liegt die Wurzel einer Kultur, sondern im Medium jeder Verständigung selbst, das sogar noch im Streit die Parteien verbindet. Das Ziel kann dabei keine korrupte und zuletzt kulturell wie politisch korrumpierende Weltsprache sein, ein Funktionsenglisch auf geringstem Niveau: In einer Welt, in der alles vereinheitlicht zu werden droht, hebt Hochhuth die Wichtigkeit von Vielfalt, eben auch von Sprachenvielfalt, hervor gegen alle totalitären Ansprüche.

                      In einer glanzvollen Rede verteidigt Hochhuth die deutsche Sprachkultur, fordert ihren institutionellen Schutz, klagt mit scharfen Worten die Verantwortlichen der modernen Barbarei an und liefert in hoher rhetorischer Qualität ein Beispiel für die Kraft der Rede, die er so bedroht sieht.

                      Jury
                      Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.

                      Sprecher der Jury
                      Boris Kositzke

                      Text der Rede

                    • 2000 – Daniel Cohn-Bendit: Quo vadis Europa

                      Das Institut für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat die Rede Quo vadis Europa? des Grünen Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit zur Rede des Jahres 2000 gewählt.

                      Mit beredten Worten entwickelt Cohn-Bendit die Vision einer wahrhaft europäischen Zukunft, sein Ziel ist der Wandel der EU von einem Verwaltungsapparat zu einer wahren politischen und menschlichen Union. Der Redner argumentiert mit Überzeugung und Engagement, wohlbegründet und mit hervorragender Kenntnis der europäischen Kulturgeschichte. Er versucht nicht, es allen recht zu machen, sondern besitzt den Mut, gegen die fragwürdigen Gewohnheiten der Politik neue Wege nach Europa zu suchen eine seltene Tugend in der politischen Beredsamkeit unserer Zeit.

                      Europa wird Cohn-Bendit zu einer der letzten Utopien, für die es sich lohnt zu kämpfen. Ohne Tabus stellt er Fragen nach der europäischen Identität, nach den Grenzen der europäischen Erweiterung und entwickelt die Vision einer europäischen Magna Charta. Cohn-Bendit weiß, daß Europa sich ändern muß, wenn es sich weiterentwickeln soll, und deutlicher als andere wagt er es, sich Gedanken darüber zu machen, wie die europäische Zukunft in verfassungsrechtlicher und menschlicher Hinsicht aussehen kann. Dabei schreckt er nicht vor dem Tabu zurück, auch über die Grenzen der EU-Erweiterung nachzudenken. Er legitimiert das politische Europa aus kulturhistorischen und geographischen Realitäten, denn er weiß, ohne einheitliche Identität kann es kein einiges Europa geben und grenzenlose Osterweiterungen nehmen der europäischen Identität die Basis. Cohn-Bendit erliegt dabei aber nicht der Versuchung, europäischen Zentralismus zu propagieren: Europäische Identität heißt nicht Verzicht auf nationale Identitäten. Zum zentralen Punkt des europäischen Selbstbewußtseins, so wie Cohn-Bendit es sich vorstellt, gehört nicht Chauvinismus, sondern Verfassungspatriotismus.

                      Die am 3. November dieses Jahres anläßlich der 18. Lesung der Van-der-Leeuw-Stiftung in der Martini-Kirche in Groningen (Niederlande) gehaltene Rede beeindruckt durch die Klarheit ihrer Gedanken. Cohn-Bendit kann für seine Argumentation auf ein umfangreiches kulturhistorisches Wissen zurückgreifen. Kenntnisreich erläutert er Stationen europäischer Identitätsbildung und läßt sich dabei nie zur Formulierung bloßer Selbstverständlichkeiten hinreißen, sein Blick auf die Geschichte ist informativ und innovativ zugleich. Cohn-Bendit beherrscht die vielfältige Kunst des rhetorischen Arguments, er argumentiert mit Beispielen und Vergleichen und setzt bei seiner Rede auf Vernunfts- und Gefühlsgründe gleichermaßen. Sprachlich überzeugt die Rede, indem sie beständig das Publikum zum Bezugspunkt aller Formulierungen macht; bilderreich und klar stellt Cohn-Bendit seine Europa-Vision vor. Dabei verfügt der Redner über ein großes Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten, seine Skala reicht von feiner Ironie bis zum pathetischen Appell. So stehen Redner und Rede als Exempel für die innovative und aufklärerische Kraft einer wahrhaft europäischen Beredsamkeit.

                      Jury
                      Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.

                      Text der Rede

                    • 1999 – Joschka Fischer: Parteitagsrede vom 13. Mai 1999

                      Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat die Rede des Außenministers Joschka Fischer auf dem Parteitag der Grünen am 13. Mai 1999 zur Rede des Jahres gewählt. In Zielsetzung, Vollzug und Wirkung stellt diese Rede einen Musterfall demokratischer Beredsamkeit dar. Der Redner fordert Gespräch, Diskussion, den freien Streit der Meinungen ein, also die rhetorischen Grundlagen der Demokratie, und praktiziert sie zugleich auf vorbildliche Weise selber.

                      Das Thema der Rede ist die Beteiligung Deutschlands an den militärischen Einsätzen der Nato in Jugoslawien, und sie behandelt dieses Thema auf der Basis einer neuen europäischen Friedenspolitik, die den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates dann zur Disposition stellt, wenn diese inneren Angelegenheiten Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit miteinschließen. Friedenspolitik wird damit zu einer kämpferischen Politik gegen die Feinde und Verächter des Friedens. Widerstand und Friede gehen eine Allianz ein, und der Redner erinnert daran, daß gerade die Deutschen nicht tatenlos abseits stehen bleiben dürfen, wenn in ihrer Nachbarschaft Völkermord, ethnische Säuberungen, Massaker und Vergewaltigung zur alltäglichen Wirk­lichkeit geworden sind.

                      Die frei gehaltene, in einer äußerst erregten Atmosphäre und unter persönlichem Risiko vorgetragene Rede gibt jedoch an keiner Stelle der Verführung nach, Diskussionsbereitschaft und rhetorische Vernunft gegen das Wort der Macht oder den Zwang der internationalen Verpflichtung preiszugeben. Der Redner vertritt seine Politik in Argumentation, emotionaler Beteiligung und persönlicher Glaubwürdigkeit gleichermaßen überzeugend. Besonders eindringlich wirkt dabei, wie er seinen eigenen Denkprozeß mit allen Zweifeln und inneren Anfechtungen thematisiert, seine ganze Biographie in die Waagschale wirft und sich durch keine Provokation aus dem dialogischen Konzept bringen läßt. Die sprachliche Kraft des Redners läßt kaum einmal nach, und mit welcher Sicherheit er die rhetorische Ausdrucksskala von drastischer Anschaulichkeit bis hin zu bewegendem Pathos beherrscht, darin kommt ihm in unserem politischen Leben zur Zeit niemand gleich.

                      Zukunftsweisend bekräftigt Joschka Fischer am Ende des Jahrtausends die Grundüberzeugung der klassischen Rhetorik von demokratischer Rede als der vermenschlichten Welt.

                      Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding, Prof. Dr. Joachim Knape, Peter Weit, Boris Kositzke, Olaf Kramer

                      Text der Rede

                    • 1998 – Martin Walser: Friedenspreisrede

                      Zur „Rede des Jahres 1998“ hat das Institut für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede gewählt, weil sie in der Tradition der großen humanistischen Beredsamkeit in Deutschland für die ideologisch verfestigten Meinungsschranken unserer Mediengesellschaft die Augen öffnet, sich gegen das organisierte Zerrbild von Gewissen, Moral, Schuldbewußtsein wehrt, das in Grausamkeit gegen die Opfer umschlägt, und schließlich für Vertrauen und Hoffnung in die Zukunft plädiert, ohne die Kraft zur Trauer zu schwächen.

                      Martin Walser hat mit selbstkritischen und ironischen Untertönen den Meinungsbetrieb in seiner manchmal gutgläubigen, doch meist zynischen Doppelbödigkeit aufgedeckt und als Instrument der ideologischen Macht­ausübung, als profitables Mediengeschäft und intellektuelle Inszenierung erkennbar gemacht. Die maßlose und hämische Kritik an dieser in rhetorischem Ethos, schlüssiger Argumentation und leidenschaftlichem Engagement für eine menschenwürdige Zukunft vorbildlichen Rede bestätigt deren Thesen so eindrucksvoll wie bedrückend.

                      Jury
                      Prof. Dr. Gert Ueding

                      Text der Rede